Anticholinerge Last 

Minimieren statt ignorieren

MAG. PHARM.

Lisa

Raffelsberger

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Trockene Augen © Shutterstock
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Die Gruppe der Anticholinergika (= Parasympatholytika) umfasst Arzneistoffe verschiedenster Wirkstoffklassen. Dazu zählen Arzneimittel gegen Morbus Parkinson, Spasmolytika oder Antiemetika, wobei hier die anticholinerge Wirkung die therapeutische Wirkung (Hauptwirkung) darstellt. Es finden sich aber auch zahlreiche Medikamente, die neben der tatsächlichen pharmakologischen Indikation auch anticholinerge Symptome als unerwünschte Arzneimittelwirkung provozieren können. Eine Auswahl entsprechender Wirkstoffe findet sich in der Tabelle.

Wirkstoffe mit anticholinerger HauptwirkungWirkstoffe mit anticholinergen Nebenwirkungen
Antiemetika, AntivertiginosaDimenhydrinat, ScopolaminAntiarrhythmikaChinidin, Procainamid
 ParkinsonmedikamenteBiperidenAntihistaminikaDiphenhydramin
Cetirizin
Gastrointestinale SpasmolytikaButylscopolaminMuskelrelaxanzienOrphenadrin
MydriatikaAtropin, Scopolamin TropicamidAntipsychotikaClozapin
Olanzapin
Intensivmedizin, präoperative MedikationAtropinUlkusmedikamenteRanitidin
Urologische SpasmolytikaOxybutynin, Tolterodin, 
Fesoterodin, Darifenacin, Solifenacin
AnalgetikaPethidin, Fentanyl, Methadon, Morphin, Tramado
Inhalative BronchodilatatorenIpratropium, Tiotropium, 
Aclidiniumbromid
AntidepressivaTrizyklika (z. B. Amitriptylin, Clomipramin)
BenzodiazepineDiazepam


Anticholinerge Nebenwirkungen

Zu den häufigsten zentralnervösen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) zählen Tremor, Verwirrtheit, Sehstörungen und Tachyarrhythmien, die das Sturzrisiko erheblich erhöhen können. Weitere schwere Nebenwirkungen sind kognitive Einschränkungen, Halluzinationen und Delir. Zusätzlich können auch andere UAW wie Harnverhalt, trockener Mund oder Verstopfungen auftreten, die zwar keine schwerwiegenden Folgen darstellen, die Lebensqualität aber in erheblichem Ausmaß beeinträchtigen können.

Geriatrisch ungeeignet

Obwohl alle Patient:innen von anticholinergen Effekten betroffen sein können, sind diese Arzneistoffe v. a. bei geriatrischen Patient:innen kritisch zu hinterfragen. Dies liegt mitunter an der altersbedingten verringerten cholinergen Übertragung und dem langsameren Metabolismus, was die Elimination verzögert. Aber auch an die zusätzlich erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke muss gedacht werden, denn dadurch können im ZNS höhere Arzneistoff-Konzentrationen entstehen. Natürlich steigt mit zunehmendem Alter auch die Wahrscheinlichkeit einer Multimorbidität, wobei die so oft damit einhergehende Multimedikation das Risiko für kumulative Belastung mit anticholinergen Arzneimitteln weiter erhöht. Und trotz dieser offensichtlichen Risiken nehmen ca. 50 % der geriatrischen Patient:innen Arzneimittel aus dieser Gruppe regelmäßig ein.

Gefahr von Verordnungskaskaden

Werden diese anticholinergen (Neben-)Wirkungen nun nicht als solche erkannt, sondern als neue eigenständige Erkrankung gedeutet, führt das schnell zu Verordnungskaskaden. Sprich: Es wird ein zusätzliches Arzneimittel zur Behandlung der Nebenwirkung verordnet.

Tatsächlich kommen solche Fälle nicht selten in der Praxis vor, denn auch Ärzt:innen ist das Ausmaß der anticholinergen Belastung ihrer Patient:innen meist nicht bewusst, liest man in der S3-Leitlinie „Multimedikation“ von 2021. 

Hier ein Beispiel für eine derartige Verordnungskaskade: Zunächst wird zur Behandlung einer Depression Amitriptylin verschrieben. Daraufhin treten kognitive Störungen als anticholinerge Nebenwirkung auf – diese werden jedoch nicht als solche erkannt, stattdessen wird Rivastigmin verordnet. Rivastigmin wiederum verursacht als Nebenwirkung Agitiertheit, wogegen ein Neuroleptikum eingesetzt wird und ein Parkinsonoid entsteht. Anstatt also das trizyklische Antidepressivum auf ein SSRI oder SNRI (z. B. Citalopram) auszutauschen, wird eine Reihe neuer Medikamente angesetzt, die wiederum für Nebenwirkungen sorgen. Dieses Beispiel verdeutlicht anschaulich die Notwendigkeit, sich v. a. bei Multimedikation näher mit dieser Wirkstoffgruppe zu beschäftigen und im Bedarfsfall die anticholinerge Last zu senken.

Anticholinerge Last bewerten

Wie stark die anticholinerge Belastung (ACB) im Einzelfall ausfällt, hängt einerseits von der Stärke des verschriebenen Arzneistoffs, andererseits auch von der Summe der anticholinergen Effekte aller Arzneimittel einer Person ab.

Um die anticholinerge Last besser beurteilen zu können, gibt es eine Reihe an Risikoskalen und unterschiedlichen Listen, in denen mehr als 100 verschiedene Wirkstoffe mit anticholinerger Wirkung erfasst wurden. Die verschiedenen Bewertungssysteme unterscheiden sich jedoch oft in der Bewertung der Substanzen und erschweren den Einsatz in der Praxis.

Zu den gängigsten Risikoskalen zählen: 

  • Die „Anticholinergic Risk Scale (ARS) der Kansas Foundation for Medical Care
  • Die „Anticholinergic Cognitive Burden“-Liste des Indiana University Center for Aging Research 
  • Der „Deutsche Anticholinergic Burden Score“

Allgemein richten sich die Bewertungen nach einer 3-Punkte-Skala: keine (0 Punkte), niedrige (1 Punkt), mittlere (2 Punkte) und starke (3 Punkte) anticholinerge Belastung. Die Einstufung verschiedener Arzneistoffe in diese Risikoklassen ist in Tabelle 2 zusammengestellt (diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit). Um den Gesamtscore einer Patientin/eines Patienten zu ermitteln, werden die einzelnen Punktwerte aller verwendeten Arzneimittel addiert. 

Ein Score von 3 oder höher bedeutet ein erhöhtes Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen und es sollte, wenn möglich, ein Wechsel auf ein Medikament mit niedrigerer anticholinerger Last stattfinden. Falls dies nicht umsetzbar ist, wird eine Dosisreduktion oder ein engmaschigeres Monitoring auf anticholinerge Nebenwirkungen angeraten. 

Hilfreiche Tools

Als praktisches Online-Tool steht kostenfrei der ACB-Calculator (www.acbcalc.com) zur Verfügung. Dieser benutzt die Anticholinergic Cognitive Burden-Liste und den Deutschen ACB-Score als Datenquellen, da diese im Vergleich die höchste Validität und Verlässlichkeit bieten. Nach Eingabe der Arzneimittel wird der ACB-Score automatisch berechnet. Der Rechner gibt außerdem Auskunft über mögliche Optionen und alternative Arzneimittel zur Reduktion der anticholinergen Last. 

ACB-Calculator steht unter  www.acbcalc.com als kostenfreies Online-Tool zur Verfügung. Nach Eingabe der Arzneimittel wird der ACB-Score automatisch berechnet. © Apoverlag
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Ein Werkzeug, das zusätzlich zu den anticholinergen Effekten auch sedative Medikamente berücksichtig und als einziges Tool die eingenommene Dosierung mitberücksichtigt, ist der Drug burden index (DBI). Ein steigender DBI-Score wird mit stärkeren kognitiven und funktionellen Einschränkungen, einer höheren Mortalität und einer Hospitalisierungsrate in Verbindung gebracht. 

Trotz beachtlicher Risiken nehmen ca. 50 % der geriatrischen Patient:innen Arznei- mittel mit anticholiner- gen Wirkkomponenten regelmäßig ein. © Shutterstock
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Trotz beachtlicher Risiken nehmen ca. 50 % der geriatrische Patient:innen Arzneimittel mit anticholinergen Wirkkomponenten regelmäßig ein.

Bewertung der anticholinergen Last
ACB Score = 1ACB Score = 2ACB Score = 3
AclidiniumbromidEntacaponMirtazapinAmantadinAmitriptylin
AlprazolamEscitalopramMorphinCarbamazepinAtropin
AmpicillinEtoricoxibNifedipinCimetidinClomipramin
AripiprazolFamotidinOxazepamHaloperidolClozapin
AtenololFentanylOxycodonLoperamidDimenhydrinat
AzathioprinFexofenadinPhenobarbitalMaprotilinDiphenhydramin
BaclofenFlunitrazepamPiperacillinMethadonDoxepin
BisacodylFluoxetinPramipexolOlanzapinHydroxyzin
BromocriptinFlurazepamPrednisolonOpipramolImipramin
BupropionFurosemidPrednisonOxcarbazepinLevomepromazin
CaptoprilGentamicinPromethazinParoxetinNortriptylin
CelecoxibGuaifenesinPseudoephedrinPethidinOrphenadrin
CetirizinHydralazinRisperidonQuetiapinOxybutynin
CiclosporinHydrocortisonSelegilinRanitidinScopolamin
CitalopramIpratropiumbromidSertralinTheophyllinSolifenacin
ClindamycinIsosorbiddinitratSumatriptanTramadolTizanidin
ClonazepamIsosorbidmononitratTiotropiumbromidTolterodin
CodeinLansoprazolTrazodonTrimipramin
DesloratadinLevocetirizinTriamcinolonTrospium
DexamethasonLevodopaTriazolam
DextromethorphanLithiumValproinsäure
DiazepamLoratadinVancomycin
DigitoxinLorazepamVenlafaxin
DigoxinMetforminWarfarin
DiltiazemMethylprednisolonZolmitriptan
DimetindenMetoclopramid
DipyridamolMetoprolol
DomperidonMidazolam
Doxylamin

Tabelle 2


Anticholinerge Nebenwirkungen

Breites Spektrum

  • Mundtrockenheit
  • Verstopfte“ Nase 
  • Trockene Augen, Sehstörungen
  • Mydriasis, Glaukomanfall
  • Obstipation
  • Trockene Haut
  • Miktionsstörungen
  • Tachykardie
  • Harnverhalt
  • Verwirrtheit, Konzentrationsstörungen
  • Gedächtnisstörungen
  • Benommenheit, Schläfrigkeit
  • Schwindel, Sturzneigung
  • Unruhe
  • Delir
  • Potenziell tödliches anticholinerges Syndrom 
    (Kombination mehrerer Symptome – Delir, Hyperthermie, Mydriasis, Tachykardie)


Auch die bekannte PRISCUS-Liste für ungeeignete Arzneimittel im Alter berücksichtigt anticholinerge Effekte von Wirkstoffen und kann zur Beurteilung mit herangezogen werden.

Achtung OTC-Bereich

Neben den zahlreichen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sollten auch die OTC-Präparate im Auge behalten werden, da sich selbst im verschreibungsfreien Sortiment Präparate mit teils starken anticholinergen (Neben-)Wirkungen wiederfinden. Die gängigsten anticholinergen OTC-Präparate sind sicherlich die H1-Antihistaminika wie z. B. Diphenhydramin als Schlafmittel oder Dimenhydrinat gegen Übelkeit. Aber auch das Laxans Bisacodyl oder das Spasmolytikum Butylscopolamin können in Kombination mit anderen anticholinerg wirksamen Arzneimitteln Probleme verursachen. 

Quellen

  • Kiesel E et al.: An anticholinergic burden score for German 
    prescribers: score development. BMC Geriatr 2018; 18 (1): 23
  • Mintzer J.: Anticholinergic side-effects of drugs in elderly people. J R Soc Med 2000; 93: 457-462
  • https://www.acbcalc.com
  • S3-Leitlinie Hausärztliche Leitlinie: Multimedikation. AWMF 2021; Version 2.1; 54-121
  • Richling I.: Medikationsanalyse: Grundlagen und Fallbeispiele 
    für das Medikationsmanagement (2017). DAV: 98-99

Weitere Literatur auf Anfrage

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