Rund 500.000 Menschen sind in Österreich von Polypharmazie betroffen, was mit einer Einnahme von täglich fünf oder mehr Medikamenten definiert ist. Hinzu kommt, dass nur 50 % aller Patient:innen in Österreich ihre Medikamente richtig einnehmen. Ebenfalls rund die Hälfte der Bevölkerung besitzt eine nur mangelhafte Gesundheitskompetenz. „Das sind schockierende Werte“, stellte Podroschko bei der Präsentation der Studie, die gemeinsam mit der Med Uni Wien unter der Leitung von Prof. Christian Schörgenhofer umgesetzt wurde, fest. Mindestens ebenso erschreckend: Bei etwa 20 % aller Krankenhausaufnahmen geht man von unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Menschen über 60 Jahren aus. Die Notwendigkeit einer Medikationsanalyse steht aufgrund dieser Daten außer Frage. Welche positiven Effekte sie auf das Gesundheitssystem und die Bevölkerung hat, wurde nun mit validen Zahlen belegt und soll dabei helfen, dass die Kosten für die Dienstleistung von der Sozialversicherung übernommen werden. Offen für Gespräche zeigte sich der Vorsitzende in der Konferenz des Dachverbands der Sozialversicherungsträger, Andreas Huss: „Die Medikationsanalyse durch Apotheker:innen ist eine Kerntätigkeit des Apothekerberufs. Sie hat wesentliche Auswirkungen, die gemeinsam mit der e-Medikation auch im Zielsteuerungsmonitoring als wichtige Kennzahl beobachtet wird. Mit der Weiterentwicklung von ELGA, der Verpflichtung von allen niedergelassenen Ärzt:innen zur Diagnosecodierung sowie der verpflichtenden e-Card, e-Rezept und ELGA-Teilnahme von Wahlärzt:innen erwarte ich weitere Fortschritte bei der Polypharmazie durch höhere Transparenz und wesentlich verbesserte Datengrundlagen. Die hohe Kompetenz der Apotheker:innen wird uns in unseren Bemühungen auch weiterhin unterstützen.“
Bessere Ergebnisse als erhofft
Die Hauptaussagen der Studie: Eine Medikationsanalyse in der Apotheke senkt Probleme durch Arzneimittel für Patientinnen und Patienten im Schnitt um 70 %. Aber auch die Einhaltung der Therapieziele (Therapieadhärenz) wurde um 60 % verbessert und die Gesundheitskompetenz stieg um beachtliche 65 %. Außerdem kam es zu einer Reduktion der eingenommenen Medikamente um circa 10 %. Vor diesem Hintergrund sprach sich Michaela Wlattnig, Sprecherin der Patientenanwält:innen Österreichs, für eine Bezahlung der Medikationsanalyse durch die Krankenkassen aus: „Die Möglichkeit einer Medikationsanalyse durch öffentliche Apotheken wird von den Patientenanwält:innen unterstützt. Es ist aber im Sinne der Patientensicherheit unbedingt zu fordern, dass die Ergebnisse von Medikationsanalysen den Patient:innen schriftlich ausgehändigt werden, mit dem klaren Verweis auf die Notwendigkeit, mit dem/der behandelnden Ärzt:in entsprechend Rücksprache zu halten. Es ist unbedingt zu fordern, dass die Medikationsanalyse als Kassenleistung etabliert wird, denn gerade bei der älteren und pflegebedürftigen Bevölkerung würde dies einen erheblichen gesundheitlichen Mehrwert bedeuten.“
Keine Konkurrenz zu Ärzt:innen
„Es bringt der gesamten Bevölkerung etwas“, betonte auch Podroschko. Daher müsse die Leistung für ältere Personen, die viele Medikamente nehmen, selbstbehaltlos oder mit einem niedrigen Selbstbehalt bis zur Rezeptgebühr sein, forderte er. Die Apothekerkammer sei in Gesprächen mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger und auch mit Ärzten im Austausch. „Es geht nicht darum, dass ich den Arzt kontrolliere, sondern dass ich die Therapie bestmöglich unterstütze“, versicherte er.
Das Studium der Pharmazie berechtigt dazu, Medikationsanalysen durchzuführen, erläuterte Stefan Deibl, Leiter der Fortbildungsabteilung der Apothekerkammer. Schon weit über 3.000 Apothekerinnen und Apotheker haben Zusatzausbildungen gemacht, die von zweitägigen Intensivkursen bis hin zu monatlichen Besprechungen von Fallbeispielen gehen. „Die Apotheken sind bereit“, sagte er, und weiter: „Wir brauchen jetzt sozusagen nur noch das ‚Go‘ von der Sozialversicherung.“ Die österreichweite Implementierung der Medikationsanalyse samt Patientengespräch könne mit einer begleitenden Software „relativ flott vonstattengehen“, ergänzte Podroschko.
„Das ist der ultimative Schlüssel“
ÖAZ "Die Pilotstudie ist zu Ende gegangen und die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Sind Sie zufrieden?"
Mag. pharm. Raimund Podroschko "Wir sind mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Unsere Erwartungen wurden sogar noch übertroffen. Nervös waren wir dennoch, denn bei aller Überzeugung für dieses Projekt bleibt doch immer ein gewisses Restrisiko. Unsere Ziele wurden aber alle erreicht. Konkret ging es uns darum darzustellen, dass durch die Medikationsanalyse die Gesundheitskompetenz und die Therapietreue gesteigert werden und die Wechselwirkungen der Medikamente reduziert werden können."
Priv.-Doz. DDr. Philipp Saiko "Die Ergebnisse der Universität Wien zeigten sogar einen signifikanten Unterschied. So konnten arzneimittelbezogene Probleme durch die Medikationsanalyse etwa um die Hälfte gesenkt werden. Dieser Wert ist beeindruckend und übertrifft sogar unsere Prognosen. Die Förderung der Gesundheitskompetenz ging übrigens auch mit einer Reduktion der Kosten für Medikamente einher – rund 10 % konnten hier eingespart werden."
ÖAZ "Wenn Sie die letzten Monate Revue passieren lassen, was waren die größten Herausforderungen bei dem Projekt?"
Podroschko "In erster Linie mussten wir die Apothekerinnen und die Apotheker dazu bringen, dass sie auf ihre Kund:innen zugehen und den neuen Service auch proaktiv anbieten. Diese Dienstleistung ist für viele Kolleg:innen neu und sie müssen sich das auch zutrauen können. Im Laufe der Pilotphase hat das immer besser funktioniert. Es war schön, diese positive Entwicklung während unserer regelmäßigen Treffen beobachten zu können. Die Patient:innen auf der anderen Seite hatten keine Berührungsängste, sie haben das Angebot durchwegs sehr gut angenommen."
Saiko "Ein zusätzliches Problem war es, dass durch die Studie viel mehr bürokratische Aufgaben von der Apothekerschaft übernommen werden mussten. Findet die Medikationsanalyse außerhalb der Studie statt, ist der Zeitaufwand natürlich viel geringer. Die Rekrutierungsphase war anfangs daher alles andere als leicht. Damit hatten wir aber bereits im Vorfeld gerechnet und waren letztlich sogar positiv überrascht, wie schnell sich die Apothekerinnen und Apotheker hier angepasst haben."
ÖAZ "Wie war denn generell das Feedback der Apothekerschaft?"
Podroschko "Wir haben sehr viel Feedback bekommen. Einerseits zur Software, die verwendet werden musste, andererseits zu den Erfahrungen mit den Patient:innen. In beiden Fällen waren die Erfahrungen sehr positiv. Das Softwareprogramm wurde als intuitiv und effizient wahrgenommen und die Kund:innen waren extrem dankbar für die großartige Unterstützung. Sie haben sonst kaum die Möglichkeit, so lange und ausführlich über ihre Medikation zu sprechen."
Saiko "Die Medikationsanalyse hat aber neben den positiven Erfahrungen auf beiden Seiten der Tara vor allem einen weiteren Vorteil: Das Standing unseres Berufsstandes in der Bevölkerung steigt durch diese Dienstleistung enorm. Die Menschen, die das Service in Anspruch nahmen, waren begeistert von der Kompetenz und dem Fachwissen der Kolleginnen und Kollegen."
ÖAZ "Wie geht es nun weiter? Was müssen Apotheker:innen tun, um den Menschen auch Medikationsanalysen anbieten zu können?"
Podroschko "Grundsätzlich dürfen alle Apothekerinnen und Apotheker eine Medikationsanalyse durchführen, es bedarf hier keiner weiteren Schulung oder Weiterbildung. Die klinische Pharmazie und die Medikationsanalyse sind auch auf der Universität bereits ein Thema. Die Kammer bietet aber entsprechende Zertifikatskurse an – zum Beispiel den Basiskurs Medikationsanalyse. Wir raten allen Interessent:innen, diesen auch zu absolvieren. Wer sich noch weiter vertiefen möchte, kann beispielsweise auch noch das postgraduale Masterstudium belegen."
Saiko "Nach dieser erfolgreichen Absolvierung der Testphase sind natürlich weitere Dienstleistungen in Apotheken angedacht. Es gibt schon jetzt zahlreiche Pilotprojekte in den Bundesländern, die über die Landesgeschäftsstellen laufen – das reicht von der Ermittlung des kardiovaskulären Risikos bis hin zur Messung von Blutzucker und Vitamin-D-Spiegel. Es ist natürlich unser Ziel, so viele bezahlte Dienstleistungen wie möglich in die Apotheken zu bringen."
ÖAZ "Wie sehen Sie die Chancen, dass die Politik der Forderung der Apothekerkammer nach mehr bezahlten Test- und Screening-Angeboten oder auch dem Impfen in Apotheken nachgibt?"
Podroschko "Die Medikationsanalyse ist der ultimative Schlüssel, sie ist die erste Dienstleistung, bei der sich auch der Dachverband beteiligt hat und die nicht nur aufgrund des Verkaufs eines Medikaments entlohnt wird. Sie ist komplett entkoppelt von der Medikamentenabgabe. Wir sehen die Chancen daher gut, dass hier etwas ins Rollen gebracht wurde. Zunächst müssen wir unser Anliegen aber einmal bei den neuen Regierungsverhandlungen einbringen und das werden wir auch mit Vehemenz tun, damit wir im Regierungsprogramm erwähnt werden. Wir würden nicht seit 2017 an dem Projekt arbeiten, wenn wir nicht fest daran glauben würden. Dann geht es an weitere Projekte wie zum Beispiel das Impfen in Apotheken."
Saiko "Wir müssen es schaffen, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker so weit zu bekommen, dass jeder weiß, was die Medikationsanalyse ist und diese auch aktiv bei Verhandlungen anspricht. Weiters müssen natürlich noch die ÖGK und der Dachverband mit an Bord sein. Ich denke aber auch, dass unsere Chancen gut stehen, das Projekt durchzuboxen. Wenn das geschafft ist, können wir weitere Projekte angehen – ein Schritt folgt auf den anderen."