Der Echte Baldrian (Valeriana officinalis L. s.l.) ist eine in den gemäßigten Zonen Europas und Asiens heimische Heilpflanze, die zur Familie der Valerianaceae (Baldriangewächse) gehört. Baldrian ist eine Sammelart, welche in zahlreichen Unterarten mit di-, tetra- oder oktoploidem Chromosomensatz vorkommt und daher mit dem Zusatz s.l. (sensu latiore = im weiteren Sinne) gekennzeichnet wird. Man findet die Pflanze meist an feuchten und schattigen Standorten.
Charakteristische botanische Merkmale dieser ca. einen Meter hochwachsenden mehrjährigen krautigen Pflanze sind die am Stängel gegenständig stehenden unpaarig gefiederten Blätter und die kleinen hellrosa bis weißen Blüten, welche in einer rispigen Trugdolde angeordnet sind. Der Wurzelstock besteht aus einem Rhizom mit unzähligen Adventiv- und Seitenwurzeln („Wurzelballen“) und besitzt einen typischen, stark aromatischen Geruch.
Der wissenschaftliche Name Valeriana stammt wahrscheinlich vom lateinischen Wort valere (gesund sein), officinalis von der langjährigen Anwendung in Apotheken (Offizin). Der deutsche Name geht möglicherweise auf den nordischen Gott „Baldur“ (Gott des Lichts) zurück.
In der Antike und besonders während der Pestepidemien im Mittelalter gehörte Baldrian – wohl aufgrund des sehr intensiven Geruches – zu den wichtigsten Heilpflanzen gegen Seuchen, Gifte und ansteckende Krankheiten. Bis heute finden sich in vielen Sagen überlieferte Sprüche aus dieser Zeit wie: „Esst Baldrian und Bibernell, dann sterbt´s ihr nicht so schnell“. Darüber hinaus schätzte man Baldrian als Heilmittel gegen zahlreiche Leiden wie Seitenstechen, Gicht und Krämpfe. Die heutzutage weitverbreitete Anwendung als Schlaf- und Beruhigungsmittel ist dagegen erst in der Neuzeit nachweisbar.
Arzneilich verwendete Droge
Im Europäischen Arzneibuch wird die ungeschnittene Baldrianwurzel (Valerianae radix) definiert als die getrockneten, ganzen oder zerstückelten unterirdischen Teile einschließlich Rhizom, Wurzeln und Ausläufern von Valeriana officinalis L. s.l. Sie stammt von einer Vielzahl an Sorten, die in den Niederlanden, Belgien, Deutschland oder Osteuropa kultiviert werden.
Die Droge muss laut Ph. Eur. mindestens 0,4 % ätherisches Öl und 0,17 % Sesquiterpensäuren (berechnet als Valerensäure) enthalten.
Eine weitere Arzneibuchmonographie definiert die geschnittene Droge (Valerianae radix minutata). Sie muss mindestens 0,3 % ätherisches Öl sowie 0,10 % Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure, enthalten.
Daneben finden sich im Europäischen Arzneibuch auch Monographien zur Baldriantinktur (mindestens 0,015 % Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure), einem mit wässrig-alkoholischer Mischung hergestellten Baldriantrockenextrakt (Valerianae extractum hydroalcoholicum siccum, mindestens 0,25 % Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure) und einem mit Wasser hergestellten Baldriantrockenextrakt (Valerianae extractum aquosum siccum, mind. 0,02 % Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure).
Inhaltsstoffe und pharmakologische Wirkungen
Baldrian enthält ein sehr komplexes Gemisch an chemischen Verbindungen, welches zudem je nach Herkunft und Sammelzeitpunkt sehr stark variieren kann. Wesentliche Inhaltsstoffe sind Mono- und Sesquiterpene, Iridoide, Lignane (z. B. Pinoresinol, Hydroxypinoresinol, Olivil), Flavonoide und Alkaloide (Actinidin, Valerin). Allein im ätherischen Öl konnten bisher ca. 150 Komponenten identifiziert werden, wobei die Hauptkomponenten Bornylacetat, Myrtenylisovalerianat und -acetat sind. Eine besondere Rolle spielen auch die schwerflüchtigen Sesquiterpensäuren (Valerensäuren), welche im Arzneibuch auch zur Qualitätskontrolle verwendet werden. Weiters finden sich 0,1–2,0 % Valepotriate (Valeriana-Epoxy-Triester), aus welchen bei Einwirkung von Wärme und Säuren oder auch während der Lagerung u. a. Baldrinal, Valeriansäure und Isovaleriansäure, v. a. aber polymere Verbindungen entstehen, welche pharmakologisch inaktiv sind.1
Valepotriate sind aus diesem Grund in Tees und vielen Extrakten nicht mehr vorhanden und dürften deshalb auch als mögliche Wirkkomponenten eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Allerdings ist der sehr charakteristische Geruch von getrockneter Baldrianwurzel im Wesentlichen auf diese Abbauprodukte (v. a. Isovaleriansäure) zurückzuführen. Actinidin, ein Alkaloid, das neben dem Baldrian u. a. auch in Katzenminze zu finden ist, scheint jene Substanz zu sein, die auf Katzen anziehend und euphorisierend wirkt.2
Sedative und schlafanstoßende Wirkung
Wässrige Auszüge hemmten in vitro den Transport von GABA in den Synaptosomen. Valerensäuren zeigten zudem in diversen Rezeptorbindungsstudien eine Affinität an GABA- und Melatoninrezeptoren. Kohm et al. (2007) konnten zeigen, dass Valerensäure ein allosterischer Modulator des GABAA-Rezeptors ist und Chloridstrom-verstärkend wirkt.3 Lignane docken am 5-HT1A- und am A1- und A2A-Adenosinrezeptor an.1 Die sedierende und schlafanstoßende Wirkung dürfte sich somit nicht auf einen einzelnen Wirkstoff beschränken. Die Wirksamkeit kommt wahrscheinlich viel eher durch synergistische Effekte mehrerer Wirkstoffe zustande. Dies unterstreichen auch die Ergebnisse einer In-vivo-Studie an Mäusen von Marder et al. (2003). Hierbei bewiesen die im Baldrian enthaltenen Flavonoide Hesperiden und 6-Methylapigenin nicht nur anxiolytische Effekte, sondern überraschten dadurch, dass diese in der Kombination stärker wirkten als die jeweiligen Einzelsubstanzen.4
Muskelrelaxierende Wirkung
In einer Tierstudie wurde Mäusen ein nicht näher definierter Baldrianextrakt (2 oder 5 g/kg, peroral) oder Tetrazepam (10 mg/kg) verabreicht und die Auswirkungen auf die Muskelkraft mittels eines Greiftests und die Skelettmuskelfunktion in einem sogenannten Drahtaufhängetest bewertet. Im Vergleich zu Tetrazepam bewirkten beide Dosierungen von Baldrian eine deutliche Abnahme der Skelettmuskelkraft, ohne dass es zu signifikanten Auswirkungen auf die Ausdauer und den neuromuskulären Tonus kam, wodurch laut Studienautor:innen klar gezeigt werden konnte, dass Baldrian eine entspannende Wirkung auf die Skelettmuskulatur ausübt.5
Klinische Studien
Die sedierende und schlafanstoßende Wirkung von Baldrian wurde in den letzten 40 Jahren durch zahlreiche Humanstudien belegt. Auch wenn es aufgrund der Verwendung sehr unterschiedlicher Extrakte widersprüchliche Studienergebnisse gibt, belegt der überwiegende Teil der Studien eindeutig eine Wirksamkeit von Baldrian. Bei nicht-organisch bedingter Insomnie wurden u. a. die Einschlafzeit verkürzt sowie die Schlafqualität und Befindlichkeit am nächsten Tag verbessert. Dies belegt auch eine zuletzt durchgeführte Metaanalyse aus insgesamt 60 Studien mit insgesamt 6.894 Teilnehmer:innen. Baldrianextrakte gelten demnach als sicher und wirksam zur Förderung des Schlafs und zur Vorbeugung damit verbundener Störungen.6 In einer Studie wurde Baldrian auch als ein adjuvantes Arzneimittel bei der Therapie von AIDS mit Efavirenz untersucht. Baldrian sollte hierbei die mitunter schwerwiegenden neuropsychiatrischen Nebenwirkungen (Schlafstörungen, Angst, Psychosen, Depressionen) von Efavirenz vermeiden, um so die Therapie für die Patient:innen zu erleichtern. Hierzu erhielten die Teilnehmer:innen in der Verumgruppe vier Wochen lang jeweils eine Stunde vor dem Schlafengehen 500 mg eines nicht näher definierten Baldrianextraktes. Dabei verbesserte Baldrian den Schlaf und die Unruhe bei den HIV-positiven Patient:innen erheblich.7
Es sind zudem mehrere Studien verfügbar, die Baldrian auch mit angstlösenden Effekten in Zusammenhang bringen. In einer kleinen klinischen Studie an 64 Frauen, die sich einer belastenden und schmerzhaften Hysterosalpingographie, eine Röntgenkontrastmitteluntersuchung der Gebärmutter und der Eileiter, unterzogen, reduzierte die einmalige Gabe von 3 x 500 mg nicht näher definierten Baldriankapseln 90 Minuten vor dem Eingriff signifikant die Angst der Patientinnen.8
Wissenschaftlich bewertete Anwendungen
Seitens des HMPC wurde ein spezieller Baldriantrockenextrakt (DEV 3−7:1, Ethanol 40−70 %) aufgrund der überzeugenden Studienlage zur Linderung von leichter nervöser Anspannung und Schlafstörungen der Status eines medizinisch anerkannten Arzneimittels („well established use“) verliehen. Die anderen Zubereitungen wurden als traditionelles pflanzliches Arzneimittel zur Linderung von leichten Symptomen von psychischem Stress und zur Unterstützung des Schlafs eingestuft.
Typische Zubereitungen, Tagesdosierung und Anwendungsdauer
Baldrian kann in Form eines Tees, als gepulverte Droge, als ätherisches Öl, Frischpflanzenpresssaft, Flüssig- oder Trockenextrakt sowie als Tinktur eingenommen werden. Äußerlich kann die getrocknete Droge oder das ätherische Öl auch als Badezusatz für beruhigende Bäder verwendet werden.
Die empfohlene Dosierung zur innerlichen Anwendung liegt bei der Teedroge bei 3 x täglich 0,3−3,0 g der getrockneten Wurzel in 150 ml kochendem Wasser als Aufguss. Zur Unterstützung des Schlafs sollte der Tee eine halbe bis ganze Stunde vor dem Schlafengehen und − falls notwendig − mit einer zusätzlichen Dosis am Abend getrunken werden. Verwendet man Baldrianwurzel als Badezusatz, nimmt man 100 g pro Vollbad (in 1 Liter Wasser als Infus zubereitet und anschließend ins Badewasser geben), bis zu 1 x täglich bei einer Badedauer von 10 bis 20 Minuten. Bereitet man einen Badezusatz aus dem ätherischen Öl, werden hierfür zehn Tropfen (300–400 mg) für ein Vollbad verwendet.
Die empfohlenen Dosierungen bei den unterschiedlichen Flüssig- und Trockenextrakten unterscheiden sich je nach eingesetztem Extrakt. Jedenfalls sollte auf eine ausreichend hohe Tagesdosierung geachtet werden. Dies ist bei Baldrian insbesondere relevant, da die effektiv aufgenommene Droge bei den am Markt befindlichen Präparaten sehr stark variieren und teilweise sehr weit unter der nötigen Dosis liegt.
Für die Anwendung als Schlafmittel sollte bevorzugt der Trockenextrakt (DEV 3−7:1, Ethanol 40–70 %) mit einer Dosierung von 400–600 mg verwendet werden, was ca. 2–3 g Droge entspricht.
Falls sich Symptome nicht innerhalb von zwei bis vier Wochen bessern oder sich verschlimmern, sollte eine Ärztin/ein Arzt konsultiert werden.
Kinder, Schwangere und Stillende
Aus Sicht des HMPC sollte Baldrianwurzel erst ab 12 Jahren angewandt werden. Schwangere und Stillende sollten aufgrund fehlender Sicherheitsdaten auf Baldrian verzichten.
Nebenwirkungen und Interaktionen
Die Bewertung der Sicherheit von Baldrian stützt sich v. a. auf die langjährigen Erfahrungen, die durch die umfangreiche therapeutische Anwendung am Menschen gewonnenen wurden und Baldrianwurzelpräparate als sicher erscheinen lassen. Zwei Veröffentlichungen, die Baldrian eine leichte genotoxische Wirkung zuschreiben, sind laut HMPC durch methodische Mängel als nicht relevant einzustufen. Die Einnahme von Baldrianwurzel kann zu gastrointestinalen Symptomen wie Übelkeit und Bauchkrämpfen führen. Die Häufigkeit dieser Nebenwirkungen ist allerdings nicht bekannt.
In einer Dosis von etwa 20 g führt Baldrianwurzel zu reversiblen Symptomen wie Müdigkeit, Bauchkrämpfen, Engegefühl in der Brust, Benommenheit, Zittern der Hände und Mydriasis.
Da ein negativer Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit und Reaktionsfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, sollte man zwei Stunden nach Einnahme von Baldrian nicht Auto fahren oder Maschinen bedienen. Baldrianpräparate sollten daher für die Behandlung von Schlafproblemen erst eine halbe bis eine Stunde vor dem Zubettgehen eingenommen werden.
Kontraindikation
Bei einer bekannten Überempfindlichkeit gegenüber einer in Baldrian enthaltenen Substanz ist dieser kontraindiziert. Vollbäder sind bei offenen Wunden, großen Hautverletzungen, akuten Hauterkrankungen, hohem Fieber, schweren Infektionen, schweren Durchblutungsstörungen, Kreislaufstörungen und Herzinsuffizienz kontraindiziert.
Co-Autoren
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Bauer
emer.o.Univ.-Prof. DI Dr. Chlodwig Franz
Univ.-Prof. i.R. Mag. Dr. Dr. h.c. Brigitte Kopp
Univ.-Prof. Mag. Dr. Hermann Stuppner
Quellen
1 Blaschek W. (Hrsg.) (2016): Wichtl − Teedrogen und Phytopharmaka. Ein Handbuch für die Praxis. 6. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart
2 Bol et al.: Responsiveness of cats (Felidae) to silver vine (Actinidia polygama), Tatarian honeysuckle (Lonicera tatarica), valerian (Valeriana officinalis)
and catnip (Nepeta cataria). BMC Vet Res 2017;13(1):70
3 Khom et al.: Valerenic acid potentiates and inhibits GABA(A) receptors: molecular mechanism and subunit specificity. Neuropharmacology 2007;53(1):178−87
4 Marder et al.: 5-Methylapigenin and hesperidin: new valeriana flavonoids
with activity on the CNS. Pharm Biochem Behav 2003;75:537–45
5 Caudal et al.: Skeletal muscle relaxant effect of a standardized extract
of Valeriana officinalis L. after acute administration in mice.
J Tradit Complement Med 2017;8(2):335–40
Weitere Literatur auf Anfrage