Lange waren Kalorien sowie der Anteil an Fett, Kohlenhydraten und Eiweiß in den Lebensmitteln völlig ausreichend, um Ernährungsempfehlungen zu formulieren. Vor gar nicht allzu langer Zeit wurden diese mit einem Blick auf den Mikronährstoffgehalt aktualisiert. Neu und vor allem zeitgemäß ist die ergänzende Berücksichtigung der Verarbeitungsstufe der Lebensmittel. Mittlerweile häufen sich die Hinweise, dass der Verarbeitungsgrad einen gravierenden Einfluss auf unser Essverhalten, das Geschmacksempfinden, die Nährstoffversorgung, die Kalorienaufnahme und folglich auf unsere Gesundheit hat.
Um den Verarbeitungsgrad der Lebensmittel klar und unmissverständlich darzustellen, ist zumindest auf EU-Ebene ein einheitliches System notwendig. Konkret geht es um die Vergleichbarkeit von wissenschaftlichen Untersuchungen und gut belegbare Ernährungsempfehlungen, die von der Fachwelt formuliert werden können.
Mittlerweile wurden mehrere Klassifizierungssysteme vorgestellt, die den Verarbeitungsgrad der Lebensmittel darstellen können. Durchgesetzt hat sich bis dato das brasilianische NOVA-Modell. Brasilien war auch das einzige (!) Land der Welt, das die stetig steigende Fettleibigkeit nicht ausschließlich auf die Kalorienträger Fett, Zucker und Kohlenhydrate zurückzuführen wusste. Schon früh wurde hier vor dem Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel gewarnt.
Das Modell wurde 2009 veröffentlicht und ordnet Lebensmittel nach deren Verarbeitungsgrad in vier Gruppen (siehe auch Tabelle weiter unten):
• Stufe 1:
Unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmitte wie Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Eier, Milch etc.
• Stufe 2:
Verarbeitete kulinarische Zutaten, die in kleinen Mengen der Zubereitung dienen: Öl, Mehl, Salz, Honig, Zucker, Essig, Extrakte aus natürlichen Lebensmitteln etc.
• Stufe 3:
Verarbeitete Lebensmittel: Konservierte, eingelegte, fermentierte Lebensmittel, die nur wenige Zutaten enthalten. Werden v. a. mit Lebensmitteln der Stufe 1 kombiniert. Beispiele: Geräuchertes, sauer Eingelegtes, Brot, Teigwaren, Aufstriche, Konserven von Obst, Gemüse und Fisch
• Stufe 4:
Hochverarbeitete Lebensmittel: Alle Produkte, die mit vielfältigen Verarbeitungsschritten hergestellt werden; erkennbar an einer langen Liste an Zutaten und Zusatzstoffen. Beispiele: Fertigprodukte, Snacks, Milchprodukte sowie Fleisch- und Fischerzeugnisse mit Zusätzen, Back- und Süßwaren, Tiefkühlpizza, Softdrinks
WHO- und FAO-approved
Die Erfassung und Einteilung aller Lebensmittel in vier Stufen ist tatsächlich ein komplexes Unterfangen, das neben allen Pluspunkten naturgemäß auch Schwachstellen aufweist. Dennoch wird das NOVA-Modell von der Welternährungsorganisation (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) akzeptiert. Dabei wird ausdrücklich betont, dass das NOVASystem nicht als alleiniger Maßstab, sondern optimalerweise als Ergänzung zu bestehenden Nährwert-orientierten Systemen wie beispielsweise dem Nutri-Score zu verstehen ist.
Was Oma nicht kennt …
Wird beim Konsumenten nachgefragt, so kann dieser gut erkennen, ob ein Lebensmittel frisch oder verarbeitet ist. Der Unterschied zwischen verarbeiteten (Stufe 3) und hochverarbeiteten (Stufe 4) Lebensmitteln ist hingegen schwierig. Prinzipiell gilt: Finden wir Zutaten auf verpackten Lebensmitteln, die wir in dieser Form nicht in klassischen Rezepten finden, ist dies ein eindeutiges Indiz für ein hochverarbeitetes Lebensmittel (Stufe 4). Beispiele dazu sind: Erbsenprotein, Weizengluten, Stabilisator, Glukosesirup, Volleipulver, Methylcellulose etc.
Guter Gedanke, schlechte Ausführung
Neben Diskussionen über natürliche und künstliche Zusatzstoffe und deren Einteilung anhand der NOVA-Liste stellt uns genauso der aktuelle Trend der pflanzenbasierten Ernährung vor ein Dilemma. Während tierische Lebensmittel oft einen größeren CO2-Fußabdruck verursachen, haben zahlreiche vegetarische und vegane Produkte einen höheren Verarbeitungsgrad und enthalten ungleich mehr Zusatzstoffe. Ähnliches gilt für viele Bioprodukte und gentechnikfreie Produkte, angereicherte Produkte (Cerealien, Säfte, Joghurtvarianten etc.) oder Babykost, die sich häufig in der Stufe 4 der NOVA-Tabelle wiederfinden.
Großer Verlierer Mikronährstoffe
Primär wird der Nährstoffgehalt mit jedem Verarbeitungsschritt, bei dem insbesondere Hitze, Druck, und Sauerstoff angewandt werden, reduziert. Das betrifft nahezu alle essenziellen Nährstoffe wie Vitamine, Spurenelemente, Mineralstoffe und die hitzeempfindlichen Omega-3-Fettsäuren. Auch sekundäre Pflanzenstoffe leiden unter verschiedenen Verarbeitungsschritten. Allein durch das Schälen (Getreidekorn), Polieren (Reis), Sieben und Filtern werden wichtige Nährstoffe entfernt, die an späterer Verarbeitungsstelle vielleicht wieder aufwendig zugefügt werden oder für immer verloren gehen.
Lebensmittelbeurteilung Einordnung nach Verarbeitungsgrad, adaptiert nach NOVA-Modell | ||||
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Stufe | Betrifft | Verarbeitung | Beispiele | Verzehr |
1 | Frische Lebensmittel | frisch, getrocknet, erhitzt, gepresst, fermentiert, gefroren | Gemüse, Pilze, Kräuter, Gewürze, Obst, Nüsse, Samen, Getreide, Mehl, Kartoffeln, Fleisch, Innereien, Fisch, Eier, Milch, Joghurt, Topfen, Käse, Tee, Kaffee | Basis der Ernährung – Hauptanteil im Speiseplan |
2 | Zutaten, leicht verarbeitet | gepresst, raffiniert, gemahlen, getrocknet, zerkleinert | werden nicht einzeln verzehrt, sondern für Geschmack der Speisen zugegeben: Salz, Zucker, Honig, Pflanzenöle, Essig, Getreidestärke, Backpulver | In kleiner Menge zur Zubereitung frischer Speisen n geringen Mengen als Beigabe zu frischen Speisen |
3 | Verarbeitete Lebensmittel | geräuchert, gepökelt, gebacken, konserviert, gegart | Brot und Gebäck, Teigwaren, Marmelade, Aufstriche, eingelegtes Gemüse, Konserven aller Art, Eingemachtes aller Art, Bier, Wein | In geringen Mengen als Beigabe zu frischen Speisen |
4 | Stark verarbeitete Lebensmittel | industriell meist mit Zusätzen hergestellt | Produkte mit Zusätzen aller Art: Fertigprodukte, Cerealien, Riegel, Milchprodukte mit Fruchtzusätzen, Back- und Süßwaren, Wurst und Fischprodukte mit Zusätzen | Möglichst meiden; nur in geringen Mengen verzehren |
Weniger Ballast-, mehr Zusatzstoffe
Klar ist weiters, dass stark verarbeitete Lebensmittel einen geringeren Ballaststoffgehalt aufweisen. Dies reduziert nachweislich den Sättigungseffekt und verführt zu häufigem Snacken und insgesamt zu einer hohen Kalorienaufnahme. Zusätzlich weisen verarbeitete Lebensmittel beim direkten Vergleich oft einen höheren Gehalt an Zucker, Salz und Fetten auf. Dazu kommt
der naturgemäß höhere Anteil an Zusatzstoffen wie u. a. Süßungsmitteln, Konservierungsstoffen, Farbstoffen und Phosphaten.
Der Körper dankt es nicht
Evidenzbasierte Studien, die den direkten Einfluss von hochverarbeiteten Lebensmitteln (Stufe 4) auf den Menschen klar belegen können, gibt es bis dato kaum. Betrachten wir die vorliegenden Untersuchungen, so sind dennoch klare Korrelationen erkennbar: So zeigte eine Studie an mehr als 100.000 Erwachsenen bei einer Ernährung mit einem hohen Anteil an stark verarbeiteten Nahrungsmitteln ein um 23 % erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Eine weitere Studie erkannte unter den gleichen Ernährungsbedingungen eine um zwei Drittel erhöhte Mortalität, wobei der Effekt bei älteren und adipösen Teilnehmenden stärker ausgeprägt war. In der gleichen Studie wurde auf das erhöhte Krebsrisiko bei Konsumierenden hochverarbeiteter Fertignahrung hingewiesen – diesmal traf es Alt und Jung gleichermaßen.
14 Tage und ein Kilo mehr
Natürlich ist mit derartigen Daten sensibel umzugehen, da eine ungesunde Ernährung fast immer mit einem generell ungesunden Lebensstil einhergeht. Dennoch sollen die Daten nicht unreflektiert bleiben. 2019 ließ eine Vergleichsstudie aus Amerika aufhorchen. 20 Personen wurden für einen Monat vom Rest der Welt isoliert. Eine Gruppe ernährte sich ausschließlich von hochverarbeiteten Lebensmitteln, die andere Gruppe von frisch zubereiteten hochwertigen Gerichten. Nach 14 Tagen wurde gewechselt. In beiden Gruppen war der Kalorien-, Fett-, Protein-, Kohlenhydrat-, Salz- und Ballaststoffgehalt vergleichbar und die Teilnehmenden durften so viel essen, wie sie wollten. Bereits innerhalb von 14 Tagen stieg jeweils das Gewicht der Gruppe mit den hochverarbeiteten Lebensmitteln um knapp ein Kilo. Bei der anderen Gruppe sank das Gewicht eher. Das lag daran, dass mit der hochverarbeiteten Kost die Energiezufuhr automatisch um rund 500 Kalorien höher lag – pro Tag, wohlgemerkt! Untermauert wurde dies mit der Messung des Hormons Ghrelin, das bei der Fast-Food-Küche auf konstant hohem Niveau lag und stetig hungrig machte. Diese Studie bestätigt die Ergebnisse vieler Untersuchungen auf diesem Gebiet, diesmal jedoch mit einem anerkannten Studiendesign.
Dicker und kränker?
Hochverarbeitete Lebensmittel dürften aufgrund ihrer perfekt durchdachten Zusammensetzung (Stichwort Fressformel), der hohen Energiedichte und des fehlenden Sättigungseffekts zum Essen verführen. Vieles deutet auf ein verändertes Geschmacksempfinden, eine höhere Essgeschwindigkeit aufgrund der weicheren Textur und möglicherweise auf eine veränderte Darmflora hin. Unterm Strich macht uns der Konsum hochverarbeiteter Produkte offenbar dicker – und dick macht, zumindest statistisch gesehen, auch anfälliger für Krankheiten.
Dass der Verarbeitungsgrad in Zukunft eine prominente Rolle einnehmen wird, liegt auf der Hand. Gleichzeitig beweist die stetig wachsende Produktpalette der plant-based Ernährung, dass der Einkauf auch hier nicht ohne Blick auf das Etikett erfolgen sollte – zumal das Produkt ohne Etikett sowieso die erste Wahl ist, da es ein untrügliches Zeichen für Frischware ist.
Quellen
• Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FETeV): 4-Stufen-System für Lebensmittel nach dem Verarbeitungsgrad. www.fet-ev.eu
• Sperr, E.: Besonderes Merkmal: Verarbeitet; Forum Ernährung heute; 07.2021
• Monteiro CA et al.: Ultra-processed Foods, Diet Quality, and Health Using the NOVA Classification System. FAO (Hrsg.), Rom (2019).
• Srour, B. et al: Ultra-processed food intake and risk of cardiovascular disease: prospective chort study; BMJ; 05.2019
• Rico-Campa, A. et al.: Association between consumption of ultra-processed foods and all cause mortality: SUN prospective cohort study; BMJ; 05.20129
Weitere Literatur auf Anfrage