
Die Annahme, dass es bereits vor der Geburt zur Kolonisation des Kindes kommt, wurde zwischenzeitlich widerlegt: In der Fruchtblase ist der Fetus keimfrei und der kindliche Darm noch unbesiedelt.4 Die Besiedelung erfolgt also erst im Zuge der Entbindung. Doch Kaiserschnitt-Kinder kommen während der Geburt naturgemäß nicht mit dem vaginalen Mikrobiom der Mutter in Kontakt, der Erstkontakt erfolgt mit dem Hautmikrobiom (idealerweise) der Mutter, das sich vom vaginalen und perianalen Mikrobiom unterscheidet. Daher entstand die Idee, den Säugling nachträglich in Kontakt mit dem vaginalen Mikrobiom zu bringen. Beim Vaginal Seeding wird Vaginalsekret der Mutter unmittelbar nach der Entbindung auf das Kind übertragen. Die Methode wird bereits in mehreren Ländern, darunter Australien, Großbritannien und den USA, angewandt. Die langfristigen Effekte sind derzeit jedoch noch nicht ausreichend erforscht.
Pionierstudie zum Vaginal Seeding
Bisher stützt sich die Anwendung des Vaginal Seedings vorwiegend auf eine Studie von Dominguez-Bello M et al. aus 2016. In dieser zeigten sich an einer kleinen Kohorte (7 vaginal entbundene, 11 Kaiserschnitt-Kinder, 4 davon mit Seeding) erste positive Auswirkungen des Vaginal Seedings auf das Darmmikrobiom von Sectio-Kindern. Frauen mit potenziell pathogenen Keimen im Vaginalmikrobiom und bakterieller Vaginose wurden dabei von der Studie ausgeschlossen. Für die Entnahme des Vaginalmikrobioms wurde sterile Gaze in Kochsalzlösung getränkt und für eine Stunde in die Vagina eingelegt. Die Gaze wurde kurz vor dem Kaiserschnitt entnommen und bei Raumtemperatur in einem sterilen Gefäß aufbewahrt. Unmittelbar nach der Entbindung rieb man das Neugeborene mit dieser Gaze ein – von den Lippen über das Gesicht, den Brustkorb, die Arme und Beine bis hin zur Genital- und Analregion sowie dem Rücken. Durch Abstriche bei den Neugeborenen (rektal, verschiedene Hautstellen und Mundschleimhaut) und den Müttern (vaginal) zeigte sich, dass das Mikrobiom der Neugeborenen mit Vaginal Seeding in den ersten 30 Lebenstagen stärker dem von vaginal geborenen Kindern ähnelte. Darüber hinaus fand man in den Rektalproben beider Gruppen – sowohl bei vaginal geborenen als auch bei Kindern mit Vaginal Seeding – eine frühzeitige Anreicherung mit Laktobazillen. In der zweiten Lebenswoche siedelten sich zudem schneller Bacteroides-Bakterien an. Bei Sectio-Kindern ohne Vaginal Seeding wurde dies nicht beobachtet.
Vaginales Mikrobiom im Wandel
Um die Zusammenhänge beim Vaginal Seeding zu verstehen, ist ein Blick auf das vaginale Mikrobiom hilfreich. Bei Frauen im gebärfähigen Alter besteht es aus Laktobazillen (vorwiegend Lactobacillus acidophilus), Bifidobakterien, Staphylokokken, Streptokokken, Hefen (Candida ssp.) und E.coli-Bakterien. Lactobacillus acidophilus kommt dabei eine besondere Rolle zu: Die Bakterien wandeln Glykogen in Milchsäure um und schaffen dadurch ein saures Milieu in der Vagina. Dieses saure Umfeld verhindert, dass sich andere, möglicherweise krankmachende Erreger dort vermehren können.
Bakterienzusammensetzung des Vaginalmikrobioms nach Bräunlein | ||
Mikroorganismen | Eubiose | Dysbiose |
Lactobacillus acidophilus | ++++ | +/+++ |
Bifidobakterien | ++ | o/+ |
Streptokokken, Enterokokken | ++ | ++/++++ |
Hefen (Candida ssp.) | + | ++/++++ |
Andere (anaerobe) Mikroorganismen | + | +/+++ |
Quelle: Lutz F et al., 2018 |
Die Zusammensetzung des vaginalen Mikrobioms unterliegt verschiedenen Einflussfaktoren. Dazu gehören der Menstruationszyklus sowie exogene Faktoren wie die Einnahme von Antibiotika und hormonellen Antikonzeptiva, Stress und (übertriebene) Intimhygiene. Auch während der Schwangerschaft verändert sich das vaginale Mikrobiom: Dann nämlich wird es von Laktobazillen dominiert. Dies führt zu einer verstärkten Ansäuerung des vaginalen Milieus. Dadurch verändert sich der pH-Wert des vaginalen Milieus weiter in Richtung sauer, was Mutter und ungeborenes Kind vor aufsteigenden Bakterien schützt, die Infektionen hervorrufen könnten.
Bifidobakterien und Allergien
Bei einer vaginalen Geburt kommt das Kind zunächst mit dem Vaginal- und dann mit dem Perianalmikrobiom in Kontakt, wobei letzteres dem Darmmikrobiom ähnelt. Die Mikroorganismen gelangen über Mund und Haut in den Körper des Kindes und siedeln sich allmählich in Dünn- und Dickdarm an. Während der ersten zwei Lebenswochen stabilisiert sich das Darmmikrobiom.
Das Darmmikrobiom von Kaiserschnitt-Babys unterscheidet sich deutlich von dem vaginal entbundener Säuglinge: Es enthält weniger Lakto- und Bifidobakterien im Verhältnis zu Eubakterien, Clostridien und Bacteroidesarten. Zudem siedeln sich bei ihnen frühzeitig fakultativ pathogene Spezies wie Enterobakterien (z. B. E. coli), Klebsiellen und Proteus an. Bifidobakterien könnten eine wichtige Rolle in der Allergieentstehung spielen. Im Stuhl von Kindern, die innerhalb der ersten zwei Lebensjahre eine Allergie entwickelten, wurden im ersten Lebensjahr weniger Bifidobakterien und mehr pathogene Bakterien wie Staphylococcus aureus und Clostridien nachgewiesen.
Einflussfaktoren auf das kindliche Mikrobiom
Prä- und Probiotika
Prä- und probiotische Präparate können generell bei der Optimierung des mütterlichen Darm- und Vaginalmikrobioms in der Schwangerschaft verwendet werden, z. B. bei Frauen, die an immunologischen oder metabolischen Krankheiten leiden. In Studien zeigten sich jedoch auch positive Wirkungen auf das Darmmikrobiom der Kinder: Nahmen Mütter in der Schwangerschaft und im Wochenbett Probiotika ein, erhöhte sich die Anzahl der Bifidobakterien im Darm der Neugeborenen und sie erkrankten innerhalb der ersten zwei Lebensjahre seltener an Allergien. Der Nutzen von Probiotika hinsichtlich der Allergieneigung wurde in mehreren doppelblinden, placebokontrollierten Interventionsstudien nachgewiesen. Nahmen Schwangere im letzten Trimenon – oder der Säugling selbst im ersten Lebensjahr – Probiotika ein, erkrankten die Kinder noch bis zum 7. Lebensjahr seltener an Allergien. Durch gezielte Probiotika-Substitution im letzten Schwangerschaftsdrittel konnte zudem in mehreren Metaanalysen eine Risikoreduktion von allergischem Asthma, Atopie, Ekzemen, Nahrungsmittelallergien sowie allergisch bedingten intestinalen und systemischen Inflammationserkrankungen gezeigt werden.
Ernährung
Während und nach der Geburt beeinflussen viele Faktoren das kindliche gastrointestinale Mikrobiom, darunter die mütterliche Einnahme von Schmerzmitteln und Antibiotika während der Schwangerschaft, Stress sowie die Ernährung von Mutter und Kind. So hatte z. B. im Tiermodell eine ballaststoffreiche Ernährung der Mutter positive Auswirkungen auf die mikrobielle Gemeinschaft und Immunentwicklung der Nachkommen. Das Darmmikrobiom wird zudem durch Kohlenhydrate, Eiweiße und Lebensmittelzusatzstoffe wie die Sorbinsäure und Benzoesäure beeinflusst.
Stillen
Die Zusammensetzung des kindlichen Darmmikrobioms lässt sich durch die Ernährungsform des Neugeborenen beeinflussen. In den ersten Tagen nach der Geburt ist der Anteil aerober Keime wie E. coli relativ hoch. Die Bifidobakterien gestillter Neugeborener haben eine höhere Sauerstofftoleranz und können sich rascher vermehren. Bifidobakterien vergären u. a. Milchzucker zu Milchsäure und Essigsäure, wodurch der Darm-pH auf 4,5 gesenkt wird. Das reduziert die Anwesenheit von E. coli-Bakterien, was wiederum die Vermehrung putrider Anaerobier unterbindet, die eitrige, faulig riechende Infektionen hervorrufen. Zudem werden Laktobazillen und Bifidobakterien auch über die Muttermilch auf den Säugling übertragen. Bei Kaiserschnitt-Kindern lässt sich das Darmmikrobiom offenbar auch durch Stillen sehr gut nachträglich aufbauen, sodass das Vaginal Seeding nicht notwendig scheint.

Stillen kompensiert Kaiserschnitt
Eine Studie mit 120 Mutter-Kind-Paaren ging der Frage nach, inwieweit mütterliche Mikroben zur Besiedlung des Babys beitragen und in welchem Ausmaß sie übertragen werden.1
Dazu wurden bei den Müttern und Säuglingen mehrere Abstriche (Nasen-Rachen-Raum, Speichel, Haut, Muttermilch, Vaginalsekret und Stuhl) kurz vor bzw. bis zu einem Monat nach der Geburt entnommen. Unabhängig von der Entbindungsmethode stammten im Schnitt knapp 60 % der Mikrobenzusammensetzung bei Säuglingen von der Mutter. Nur die Art, wie die Kinder an die Mikroben kamen, machte einen Unterschied: Vaginal entbundene Säuglinge erhielten bereits während der Geburt Mikroben aus dem Vaginal- und Darmsekret; Sectio-Babys nahmen sie vermehrt durch die Muttermilch auf. Sie kompensierten das Defizit also durch das Stillen.
Mit Formula-Nahrung ernährte Neugeborene haben im Vergleich zu Stillkindern eine verzögerte Keimbesiedlung des Darms, und der Darm-pH liegt mit 5,5 bis 5,8 etwas höher, was zu einem putriden Darmmikrobiom führt.
Gefahr von Neugeboreneninfektionen?
Neben den möglichen Vorteilen (einfache Durchführung, niedrige Kosten, mögliche Risikoreduktion von Krankheiten, Besiedlung mit Laktobazillen und Bacteroides entsprechender der vaginalen Geburt) besteht auch Kritik am Vaginal Seeding. Vor allem das Risiko für Neugeboreneninfektionen durch HIV, Herpes simplex, Chlamydien, Neisseria gonorrhoeae oder Streptokokken der Gruppe B wird diskutiert. Doch ob das Kontaminationsrisiko mit pathogenen Keimen oder Viren beim Vaginal Seeding höher ist als bei einer spontanen Vaginalgeburt, ist fraglich.
Ausblick
Aktuell untersuchen mehrere Studien die Auswirkungen von Vaginal Seeding: Eine davon befasst sich mit dessen Einfluss auf Fettleibigkeit und andere immunvermittelte Krankheiten, die andere mit jenem auf das Mikrobiom der oberen Atemwege im frühen Lebensalter.6,7 Die Ergebnisse sollen 2029 bzw. 2026 vorliegen.
Quellen
- Lutz F et al.: Vaginal Seeding – Chance oder Risiko. Die Hebamme 2018, 31:45 – 53
- Matthes H: Prä- und Probiotika in: Mikrobiom, de Gruyter, Berlin, 269-298
- Sience media center germany: Mikrobiomübertragung von Mutter auf Kind, https://www.sciencemediacenter.de/angebote/23037#quellen, abgerufen am 06.02.205
Weitere Literatur auf Anfrage