Funktioneller Schwindel

Wenn die Welt ins Wanken gerät

Mag. pharm. Irene Senn, PhD
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Schwindelsyndrome sind weit verbreitet. Epidemiologischen Erhebungen zufolge leiden 20–30 % der gesamten Weltbevölkerung im Laufe ihres Lebens einmal an einer Schwindelerkrankung. Damit zählt das Symptom zu den häufigsten Gründen für einen Arztbesuch.1-3 „Bei annähernd der Hälfte der Schwindelpatient:innen kann keine organische Ursache festgestellt werden“, erläuterte Univ. Prof. Dr. Gerald Wiest, Leiter der Spezialambulanz für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen der Klinik für Neurologie am AKH Wien, der ÖAZ im Gespräch.

Lange Odyssee zur Diagnose

Schwindel ist ein häufiges und unspezifisches Symptom, hinter dem sich ganz unterschiedliche Krankheitsbilder verbergen können. Bevor die Diagnose „funktioneller Schwindel“ gestellt wird, müssen alle organischen Ursachen ausgeschlossen werden. „Das ist eine große Herausforderung, da es eine enge Zusammenarbeit zwischen mehreren Disziplinen erfordert. Viele Betroffene haben eine Odyssee von Arztbesuchen hinter sich, bis sie schlussendlich die Diagnose erhalten“, berichtete der Neurologe aus seiner Praxis. 

Verstärkte Selbstbeobachtung stört die Balance

Funktioneller Schwindel steht häufig in Zusammenhang mit psychischen Störungen. „Angsterkrankungen, depressive Störungen und sogenannte Anpassungsstörungen sind mit diesem Krankheitsbild häufig vergesellschaftet“, so Wiest. Begünstigend scheinen auch zwanghafte Persönlichkeitsmuster zu sein. Sehr häufig entsteht diese Art von Schwindel durch eine verstärkte Selbstbeobachtung der Balance. Durch eine gestörte Wahrnehmung verschiedener Sinne kommt es zu einem Verlust der Körpersicherheit im Raum und damit einhergehend zu Gleichgewichtsstörungen und Gangunsicherheiten.6 Die Betroffenen beschreiben ihre Wahrnehmung oft als Schwank- oder Benommenheitsschwindel. Schwindelattacken sind hingegen selten. 

Situationsbezogene Schwindelsymptomatik

Typisch ist, dass die Schwindelsymptomatik immer in denselben Situationen auftritt, bspw. in Menschenmengen, Supermärkten oder Restaurants. „Die Folge ist dann häufig ein Vermeidungsverhalten und sozialer Rückzug. Die Betroffenen verlassen oft das Haus nicht mehr oder nur mehr in Begleitung“, veranschaulichte Wiest. Zu Hause sind die Symptome hingegen meist weniger stark ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Und auch Ablenkung spielt offenbar eine Rolle. „Viele Patient:inneen berichten, dass die Beschwerden komplett verschwinden, wenn sie sich sportlich betätigen oder sich in Gesellschaft befinden“, so Wiest. Auch morgens erleben viele eine subjektive Besserung.7

PPPD
Diagnosekriterien der Bárány-Gesellschaft

PPPD definiert sich als chronisches Schwindelsyndrom, wobei für die Diagnose alle fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen: 

  1. persistierender Schwindel an den meisten Tagen über min. drei Monate, wobei die Symptome während eines Tages über Stunden, aber nicht zwingend über den ganzen Tag hinweg anhalten müssen

  2. Die Symptome treten spontan auf, können aber durch eine aufrechte Körperposition, aktive oder passive Körperbewegungen und durch sich bewegende visuelle Stimuli verstärkt werden.

  3. Den Symptomen können akute oder chronische vestibuläre, psychologische oder andere Störungen vorausgehen, gleichzeitig bestehen und/oder sie überdauern.

  4. Die Symptome verursachen eine deutliche Belastung oder funktionelle Beeinträchtigung.

  5. Die Beschwerden sind durch eine andere Erkrankung nicht besser erklärbar.

Kasten 1


Häufiges Phänomen: sekundärer funktioneller Schwindel

„Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es sehr oft Triggerpunkte gibt, die eine funktionelle Schwindelerkrankung auslösen“, führte der Experte weiter aus. Häufig gibt es in der Vorgeschichte einen gutartigen Lagerungsschwindel, der sich dann bessert. In der Folge entwickeln die Betroffenen eine Unsicherheit, die sich über Wochen und Monate erstrecken kann. „Das ist ein Phänomen, das wir sehr häufig beobachten“, verdeutlichte Wiest. „Es gibt zunächst eine organisch bedingte vestibuläre Erkrankung. Aber die Schwindelbeschwerden bleiben nach Behandlung der ursprünglichen Erkrankung weiter bestehen. Sie sind dann organisch nicht mehr erklärbar und gehen sekundär in einen funktionellen Schwindel über.“ 

Therapeutische Optionen

Werden die Schwindelsyndrome zielgerichtet und entsprechend der diagnostischen Zuordnung behandelt, so kann bei der Mehrzahl der Patient:innen ein guter Therapieerfolg erreicht werden. „Organisch bedingte Schwindelsyndrome sind heute relativ gut behandelbar. Wir haben für fast alle Entitäten physikalische Manöver, operative Techniken oder auch medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung“, berichtete Wiest. 

Die Behandlung einer funktionellen Schwindelsymptomatik gestaltet sich hingegen oft schwieriger und vor allem langwierig. „Das große Problem ist, dass diese Erkrankung sehr stark zur Chronifizierung neigt“, verdeutlichte der Experte. Wenn feststeht, dass es sich um einen funktionellen Schwindel handelt, gilt es, die Patient:innen zunächst von der Angst zu befreien, an einer organischen Erkrankung zu leiden und ihnen klar zu machen, dass der Mechanismus dieser Erkrankung eine zu starke Selbstbeobachtung ist.

Viele Schwindelpatient:innen profitieren von Entspannungsverfahren wie autogenem Training, Yoga, Tai-Chi und anderen sportlichen Betätigungen. © iStock
Viele Schwindelpatient:innen profitieren von Entspannungsverfahren wie autogenem Training, Yoga, Tai-Chi und anderen sportlichen Betätigungen. © iStock



„Das ist oft der schwierigste Teil der Behandlung: Patient:innen nach all den organischen Untersuchungen auf diese psychotherapeutische Schiene zu bekommen“, so die Erfahrung des Leiters der Schwindelambulanz. Diese Einsicht und die Bereitschaft, daran etwas zu ändern, sind jedoch unbedingt notwendig. Die Behandlung basiert dann im Wesentlichen auf den drei Säulen Psychoedukation, Psychotherapie und Psychopharmakotherapie. 

Viele Schwindelpatient:innen profitieren von Entspannungsverfahren wie autogenem Training, Yoga, Tai-Chi und anderen sportlichen Betätigungen. Auch mit Gleichgewichtstraining werden oft gute Erfolge erzielt. „Die Betroffenen bekommen dadurch ein besseres Körpergefühl und eine Bestätigung, dass ihre vestibulären und spinalen Reflexe intakt sind“, führte Wiest aus. „Das ist ein Reinforcement und zeigt den Patient:innen: Mein Körper funktioniert. Erst wenn ich meine Aufmerksamkeit auf den Körper lenke, wird alles unsicher.“

Daneben kommen je nach Ausprägung der Beschwerden und Begleiterkrankungen verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Anwendung. Mitunter ist auch eine psychotherapeutische Behandlung indiziert, um die Ursache zu therapieren. „Denn oft ist der funktionelle Schwindel nur die Spitze des Eisbergs und dahinter stehen Überlastungssyndrome und Persönlichkeitsprobleme“, gab Wiest zu bedenken.

Terminologie
Aus psychogenem Schwankschwindel wird PPPD

In der Vergangenheit sprach man bei Schwindelsyndromen, die organpathologisch nicht erklärbar waren, von „psychogenem Schwankschwindel“ oder „chronisch subjektivem Schwindel“. In den letzten Jahren hat sich international die Bezeichnung „persistent postural-perceptual dizziness“ (PPPD, triple PD) durchgesetzt. 

Unter PPPD werden alle nicht-organisch bedingten Schwindelerkrankungen subsumiert. Die neue Entität ist seit der Version 11 in der Internationalen Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) der WHO gelistet und löst alle früheren Bezeichnungen ab.4 Die Begriffe „PPPD“ und „funktioneller Schwindel“ sind synonym zu gebrauchen.

Die internationale Bárány-Gesellschaft hat für die neue Entität „persistent postural-perceptual dizziness (PPPD) weltweit gültige Diagnosekriterien erarbeitet (siehe Kasten 1).5

Kasten 2


 
Als medikamentöse Therapieoptionen kommen klassische trizyklische Antidepressiva, aber auch SSRI und SNRI zum Einsatz. Insbesondere bei gleichzeitig bestehenden Angsterkrankungen oder depressiven Störungen haben diese Wirkstoffklassen durchaus ihre Berechtigung.8 Zu beachten ist dabei, dass SSRI/SNRI bei einer zu raschen Dosissteigerung Schwindel als unerwünschte Begleiterscheinung auslösen können. Eine langsame Auftitration zur Zieldosis sollte daher bei diesen Patient:innen unbedingt angestrebt werden.

Bei homöopathischen Komplexmitteln aus der Apotheke oder pflanzlichen Präparaten spielen Placebo-Effekte möglicherweise eine Rolle. „Die Betroffenen möchten meist selbst etwas tun. Es schadet nicht, aber die Evidenz ist bei diesen Präparaten nicht gegeben“, machte Wiest deutlich. 

Alarmsymptome beachten

Für viele Menschen ist die Apotheke eine wichtige Erstanlaufstelle bei gesundheitlichen Beschwerden jeglicher Art. Mitunter bekommen Apotheker:innen dann detaillierte Schilderungen über die Beschwerdesymptomatik zu hören. Eine Differenzierung zwischen einer organisch-bedingten vestibulären Erkrankung und einem funktionellen Schwindel ist jedoch nicht trivial. Auf die Frage, wann eine ärztliche Konsultation jedenfalls anzuraten sei, meinte Wiest: „Heftige Drehschwindelattacken mit Erbrechen, vor allem wenn diese erstmalige auftreten, sind immer ein Alarmsymptom. Und auch wenn neben der Schwindelsymptomatik andere Beschwerden die Sprachstörungen, Doppelbilder, Koordinationsprobleme, Schwäche- oder Taubheitsgefühl auftreten, sind das immer Warnhinweise, dass eine neurologische Ursache dahintersteckt.“ 

Insgesamt gilt es jedoch festzuhalten, dass es selbst für Fachärzt:innen eine große Herausforderung darstellt, herauszufinden, ob es sich um eine periphere, zentrale oder funktionelle Störung handelt, da sich viele Krankheitsbilder sehr ähnlich präsentieren. 

Quellen

1 Lempert T. Handbook of Clinical Neurology. Elsevier 2016.
2 Hülse R, et al.: Peripheral Vestibular Disorders: An Epidemiologic Survey in 70 Million Individuals. Otology & Neurotology 2019;40(1)
3 Chrobok AI: Phobischer Schwankschwindel. Nervenheilkunde 2019;38:542-546.
4 International Classification of Diseases (ICD-11). https://icdwhoint/browse11/l-m/en: abgerufen am 21.11.2023.
5 Staab JP, et al.: Diagnostic criteria for persistent postural-perceptual dizziness (PPPD): Consensus document of the committee for the Classification of Vestibular Disorders of the Bárány Society. J Vestib Res 2017;27(4):191-208.

Weitere Literatur auf Anfrage 

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