Multiple Sklerose

Meilensteine in Forschung und Therapie

Mag. pharm. Dr. Angelika Chlud
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Meilensteine in der Forschung © iStock
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Wichtige Erkenntnisse zu Therapie und kontinuierliche Grundlagenforschung beginnen das Rätsel um die neurologische Erkrankung zu lüften.

In Österreich sind rund 14.000 Menschen an MS erkrankt. Die entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems wird grob unterteilt in schubförmige und progrediente Formen – drei Viertel der Erkrankten haben die schubförmige Form der MS. Doch auch innerhalb dieser Gruppe gibt es eine große Heterogenität: Das Spektrum der Symptome ist breit, auch die Dauer zwischen den Schüben unterscheidet sich stark.

Bei einigen bilden sich die Symptome nach den Schüben vollständig zurück, bei anderen bleiben sie ganz oder teilweise bestehen. Auch sind die Therapien nicht bei allen Betroffenen gleichermaßen wirksam. Die MS wird daher auch als die Krankheit mit tausend Gesichtern bezeichnet, denn Symptome und Verläufe können sich ganz unterschiedlich darstellen. Im vergangenen Jahr haben weitere Neuigkeiten aus Praxis und Forschung zu einem detailreicheren Bild der Erkrankung geführt.

Zwei Erkrankungsformen:
Schubförmig vs. progredient

Bei der MS kommt es zu entzündlichen Veränderungen im zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark), die zu Lähmungen, Sensibilitätsdefiziten, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Geh-behinderung sowie kognitiven Beeinträchtigungen führen können. 

Bereits anhand der klinischen Symptomatik werden zwei Erkrankungsformen unterschieden: Am häufigsten ist die schubförmig remittierende MS. Es kommt zu Krankheitsschüben, bei denen sich bestehende Symptome verschlechtern oder neue hinzukommen, sich aber nach dem Schub teilweise zurückbilden. Den weitaus 

kleineren Teil machen progrediente Formen aus, bei denen es nicht zu Schüben kommt, sondern die Erkrankung kontinuierlich voranschreitet. Oft geht die schubförmige MS im Verlauf der Erkrankung 

in eine sekundäre progrediente Multiple Sklerose über. 

Flipping the pyramid
Generell hat in der Therapie ein Umdenken stattgefunden. Begonnen wurde mit der Eskalationstherapie, bei der von weniger zu immer potenteren Wirkstoffen auftitriert wurde. Der nächste therapeutische Ansatz war „hit hard and early“, während nun zunehmend „flipping the pyramid“ als Konzept bevorzugt wird: Dabei wird initial bei Neudiagnose eine höchstwirksame Substanz eingesetzt, um den Krankheitsverlauf zum Stillstand zu bringen. Dabei ist das Ziel, nicht nur die Zeit ohne Schübe zu verlängern, sondern auch weitere Läsionen im Gehirn möglichst lange hinauszuzögern. Doch wie Betroffene auf eine Therapie ansprechen, lässt sich bis dato noch nicht vorhersagen. Die Entdeckung von drei unterschiedlichen Endophänotypen der frühen MS könnte jedoch ein Therapieansprechen prognostizierbar machen und personalisierte Therapien ermöglichen.

Frühes Eingreifen in den Krankheitsverlauf
Wann die Therapie anzupassen ist, lässt sich seit kurzem erstmals anhand von eindeutigen und evidenzbasierten Kriterien vorhersagen. Die Ergebnisse von Forschungen an den Medizinischen Universitäten Innsbruck und Wien sowie des Universitätsspitals Bern belegen, dass zwei oder mehr in der Magnetresonanztomographie (MRT) sichtbare Läsionen im Gehirn innerhalb eines Jahres für eine Intensivierung der Therapie sprechen. „Nachdem Läsionen oft schon vor dem Auftreten klinischer Symptome in der MRT sichtbar sind, ermöglicht eine bildgebende Kontrolle bei Patient:innen mit einer gering- bis moderat-effektiven Therapie ein frühes Eingreifen in den individuellen Krankheitsverlauf“, erläuterte dazu Studienleiter Priv.-Doz. Dr. Harald Hegen, PhD von der Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie.

Drei MS-Subtypen:
Personalisierte Therapie

MS ist nicht gleich MS. Entdeckt wurden drei unterschiedliche Endophänotypen der frühen MS.

Das Wissen über genetisch-molekulare Grundlagen von Erkrankungen bildet die Basis einer personalisierten Therapie, wie sie bereits Eingang in die Onkologie gefunden hat. So werden bei Brustkrebs beispielsweise Therapien je nach Vorliegen bestimmter Genmutation oder spezieller Immunsignatur ausgewählt und sind auch nur bei bestimmten Subtypen der Erkrankung erfolgversprechend.

Bei der MS werden die schubförmig und die progrediente Erkrankungsform unterschieden. Es wurde daher vermutet, dass es auf Zellebene verschiedene MS-Endophänotypen gibt. Das konnte in einer prospektiven, multizentrischen Kohorte von mehr als 1.200 therapienaiven Patient:innen mit früher MS (≤ 2 Jahre nach Krankheitsbeginn) bestätigt werden. Die Analyse peripherer Blutmonozyten und des Serums führte zur Identifikation von drei immunologischen Endophänotypen:

Endophänotyp 1 ging mit erhöhten Anteilen von CD4-Gedächtniszellen einher, die T-Helfer-17-assoziierte Zytokine produzieren, während im Endophänotyp 3 Veränderungen in den CD8-T-Zellen dominierten. Endophänotyp 1 war mit erhöhten Anzeichen frühzeitiger struktureller Schäden und Behinderungsprogression verbunden (degenerativer Endophänotyp), während Endophänotyp 3 durch eine hohe entzündliche Krankheitsaktivität gekennzeichnet war (entzündlicher Endophänotyp).

Endophänotyp 2 wies hingegen kaum Marker struktureller Schädigungen oder von Neuroinflammation auf, ausgeprägter waren

aber Veränderungen im NK-Zell-Kompartiment.

Die Studie zeigte auch, dass sich MS-Standard-Immuntherapien

in ihrer Fähigkeit unterscheiden, Immunsignaturen zu verändern,

die mit jedem der drei Endophänotypen verbunden sind. Damit könnten möglicherweise Krankheitsverlauf und Therapieansprechen prognostizierbar und personalisierte Therapien erstellt werden, resümierten die Studienautor:innen.

Zukünftige Therapien 
Zu den vielversprechenden neuen Therapieoptionen zählen die Bruton-Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (BTKi) aus der onkologischen Therapie. Die Bruton-Tyrosinkinase (BTK) ist ein Enzym, das in verschiedenen Immunzellen vorkommt – so auch in B-Zellen. Hier trägt es zur Reifung und Vermehrung der B-Zellen bei. Bei MS fördert die BTK dadurch die Aktivität der fehlgeleiteten B-Zellen und damit die Entzündungsprozesse.

BTKi wie Evobrutinib oder Tolebrutinib können als small molecules über die Blut-Hirn-Schranke gelangen und haben das Potenzial, lokal fehlregulierte inflammatorische Prozesse, insbesondere aktivierte Mikroglia und Makrophagen, zu modulieren. Evobrutinib und Tolebrutinib konnten in der schubförmigen MS zwar keine Überlegenheit gegenüber Teriflunomid zeigen. Allerdings liegen nun erstmals positive Studienergebnisse für Tolebrutinib für die Therapie der sekundär-progredienten MS ohne Schübe vor. Limitierend scheinen v. a. unerwünschte Wirkungen auf Leberenzyme zu sein. Die Phase-III-Studienprogramme mussten deshalb vorübergehend aufgrund von Leber-toxizität gestoppt werden.

CAR-T-Zell-Therapie
Eine hochinnovative, zielgerichtete Immuntherapie ist die CAR-T-Zell-Therapie, die prinzipiell Autoimmunerkrankungen sogar heilen kann. Sie wurde in Einzelfällen bei therapierefraktären neurologischen Erkrankungen angewendet. Klinische Studienprogramme zu CAR-T-Zelltherapien bei der MS laufen bereits, doch die potenziellen Nebenwirkungen können massiv sein, weswegen eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS nur in bestimmten Fällen geeignet ist.

Entscheidungskriterien für
Therapieanpassung 

Die MS-Krankheitsaktivität lässt sich nicht nur durch klinische Symptome erfassen, sondern kann auch mittels bildgebender
Verfahren sichtbar gemacht werden.

Auch scheinbar stabile Patient:innen können trotz Therapie neue, klinisch stumme Entzündungsherde entwickeln. Eine retrospektive Studie der neurologischen Universitätskliniken Innsbruck, Wien und Bern untersuchte, ob und wann eine MS-Therapie bereits aufgrund reiner MRT-Befunde angepasst werden sollte.

In die Studienkohorte wurden 131 MS-Patient:innen eingeschlossen, die unter einer gering- bis moderat-effektiven Immuntherapie zwölf Monate lang klinisch stabil waren und dann einer MRT unterzogen wurden. Dabei zeigte sich, dass Patient:innen mit schubförmiger MS, die unter Immuntherapie zwei oder mehr neue entzündliche MRT-Läsionen innerhalb eines Jahres entwickeln, auch bei klinischer Stabilität – also ohne Symptome – von einem Wechsel auf eine hoch-effektive Immuntherapie profitieren. In der Studienkohorte waren rund 40 % der Patient:innen klinisch stabil, zeigten allerdings in der MRT schon eine oder mehrere Läsionen. Bislang war in der klinischen Praxis eine Therapieverstärkung nur nach Auftreten klinisch manifester Symptome angezeigt. Eine bildgebende Kontrolle ermöglicht daher bei Patient:innen mit einer gering- bis moderat-effektiven Therapie ein frühes Eingreifen in den individuellen Krankheitsverlauf.

Langzeitbehandlung
Ocrelizumab war der erste monoklonale Antikörper gegen CD-20-exprimierende B-Zellen, der von der EMA im Jahr 2018 zur Behandlung von MS zugelassen wurde. Mittlerweile gibt es 10-Jahres-Daten zu Ocrelizumab bei über 312.000 Menschen. Neben der Bestätigung der langfristigen Wirksamkeit und dem günstigen Sicherheitsprofil war die wichtigste Erkenntnis, dass eine früher begonnene Ocrelizumab-Therapie die Schubrate stärker reduziert, zu weniger Behinderungen und in Summe zu besseren Langzeitergebnissen führt. Der Patientenwunsch, mit „weniger starken“ Medikamenten zu beginnen, ist folglich nur bedingt sinnvoll.

Eine Studie bei Patient:innen mit schubförmiger MS zeigte, dass die Wirksamkeit von Ocrelizumab schlechter ist, wenn es später eingesetzt wird. Zudem konnten 9-Jahres-Daten zu Ocrelizumab zeigen, dass 48,2 % der Erkrankten mit Erstlinientherapie Ocrelizumab keine Krankheitsaktivität (NEDA: No Evidence of Disease Activity) zeigten verglichen mit lediglich 25,7 % der Patient:innen, die zuvor Interferon angewendet hatten. Die frühzeitige Ocrelizumab-Gabe sicherte außerdem motorische Funktionen, die sonst später nicht wiedergewonnen wurden. Ofatumumab und Ublituximab sind zwei weitere B-Zell-depletierende Antikörper, die allerdings nur bei schubförmig verlaufender MS zugelassen sind, Ocrelizumab hingegen kann zudem auch bei früher primär progredienter MS einsetzt werden.

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