Arzneistoffe sind dreidimensionale molekulare Gebilde – ihre biologischen Effekte werden daher auch stark von der Stereochemie, also von ihrer Ausrichtung im Raum, mitbestimmt. Aus stereochemischer Perspektive lassen sich Arzneistoffe in achirale, racemische und enantiomerenreine Wirkstoffe einteilen. Etwa 50 % aller derzeit therapeutisch verwendeten „small molecules“ sind chiral, d. h. sie enthalten zumindest ein Asymmetriezentrum in ihrer Struktur.1,2
Einteilung von chiralen Wirkstoffmolekülen
Enantiomerenpaare lassen sich in drei Kategorien einteilen:1
- Ein Enantiomer ist das Eutomer, das andere das Distomer. Dies ist die häufigste Kategorie.
- Beide Enantiomere haben die gleiche Wirkung.
- In-vivo kommt es zu einer chiralen Inversion (unilateral oder bilateral).
Terminologie: Wie war das?
Zunächst eine kurze Wiederholung der Fakten: Chiralität bezeichnet die Eigenschaft von Molekülen, nicht mit ihrem Spiegelbild zur Deckung gebracht werden können, ähnlich wie die linke und die rechte Hand. Solche Moleküle nennt man Stereoisomere, genauer gesagt Enantiomere. Ein Gemisch aus gleichen Anteilen beider Enantiomere wird als Racemat bezeichnet. Das für die biologische Aktivität verantwortliche Enantiomer wird als Eutomer bezeichnet, während das inaktive oder weniger aktive Enantiomer als Distomer bezeichnet wird. In manchen Fällen ist das Distomer auch für unerwünschte Effekte verantwortlich zu machen.1,3
Bild ≠ Spiegelbild
In einer achiralen Umgebung verhalten sich beide Spiegelbildisomere chemisch und physikalisch vollkommen identisch. Tatsache ist aber: Der menschliche Körper besteht aus chiralen Strukturen, sprich auch die Zielstrukturen im menschlichen Körper sind optisch aktiv. So liegen alle Aminosäuren in lebenden Organismen in L-Konfiguration vor, während alle Kohlenhydrate eine absolute D-Konfiguration aufweisen – um nur zwei Beispiele zu nennen. Wichtige physiologische Prozesse werden also auch von der Stereochemie beeinflusst.4,5 Damit ist erklärbar, warum vermeintlich geringe Unterschiede in der räumlichen Struktur zu signifikant unterschiedlichen Effekten im Körper führen können. Das gilt sowohl in Hinblick auf die Pharmakodynamik (also die Interaktion mit Target- und Off-Target-Strukturen) als auch auf die Pharmakokinetik (ADME). Es ist nicht ungewöhnlich, dass die spiegelbildlichen Varianten eines Moleküls dramatisch unterschiedliche Wirksamkeits- und Sicherheitsprofile aufweisen.6,7
Racemate mittlerweile selten
Bereits in den frühen 1990er-Jahren erkannten FDA und EMA die Bedeutung der Chiralität und erarbeiteten entsprechende Richtlinien für die Entwicklung von chiralen Wirkstoffen.8,9 Diese empfehlen, bevorzugt reine Enantiomere zu entwickeln, lassen jedoch weiterhin die Möglichkeit offen, Racemate zu vermarkten, wenn diese therapeutische Vorteile bieten.
Reine Enantiomere lassen sich durch Trennung des Racemats mithilfe chiraler Reaktionspartner oder auch durch eine Serie chiraler Syntheseschritte herstellen. Hier hat es in den letzten 20 Jahren bedeutende methodische Fortschritte gegeben, die den Trend hin zu enantiomerenreinen Wirkstoffen verstärkt haben. Ein Blick auf die Zulassungszahlen der EMA bestätigt diese Entwicklung: Seit 2016 wurde kein Racemat mehr von der EMA zugelassen; und auch bei der FDA ist die Zahl der neu zugelassenen racemischen Wirkstoffe stark zurückgegangen – zwischen 2013 und 2022 waren es lediglich zehn. Racemate sind heute die Ausnahme, während enantiomerenreine Wirkstoffe den Standard setzen.10
Die „Chiral switch“-Strategie
Mit der Einführung der Regularien der EMA und FDA entstand in den 90er- und frühen 2000er-Jahren ein regelrechter Trend: der „Chiral Switch“. Man versteht darunter die Markteinführung eines reinen Enantiomers, das zuvor bereits als Racemat zugelassen war. Der Ansatz versprach eine verbesserte Wirksamkeit, höhere Target-Selektivität und weniger Nebenwirkungen.11 Pharmaunternehmen sahen darin aber auch die Chance, die Marktexklusivität eines Wirkstoffes zu verlängern. Die Vorgehensweise wurde daher auch als „Evergreening“ bezeichnet. Ein Chiral Switch-Arzneimittel gilt bei der EMA als neue Substanz und erhält damit einen eigenen Patentschutz.9 Zudem verlangen weder EMA noch FDA direkte Vergleichsstudien mit dem Racemat, es reicht ein Beleg der Wirksamkeit gegenüber Placebo.12
Die Idee des Chiral Switch birgt also sowohl Potenzial für medizinischen Fortschritt als auch strategische Vorteile für die Pharmaindustrie. Bekannte Beispiele zeigen, wie stark die Ergebnisse variieren können.
Thalidomid
Ein besonders tragisches Beispiel für die Bedeutung von Chiralität in der Arzneimittelentwicklung ist Thalidomid. Das unter dem Namen Contergan® vermarktete Medikament wurde in den 1960er-Jahren bei Schwangeren zur Linderung von Morgenübelkeit und als Beruhigungsmittel eingesetzt. Später stellte sich heraus, dass nur das R-Enantiomer die gewünschten Effekte zeigte, während das S-Enantiomer schwere Fehlbildungen bei ungeborenen Kindern verursachte. Tausende Babys wurden in Europa mit Geburtsfehlern wie Phokomelien geboren. Die Tragödie führte weltweit zu verschärften Anforderungen an die Sicherheit neuer Arzneimittel.13 Eine anfängliche Theorie, dass die Verwendung des „sicheren“ R-Enantiomers die Tragödie hätte verhindern können, wurde später widerlegt: Es konnte nachgewiesen werden, dass R-Thalidomid im Körper zum teratogenen S-Enantiomer umgewandelt wird.14
Ibuprofen/Dexibuprofen
Das Beispiel Ibuprofen zeigt eine andere Facette der Chiralität: Nämlich den Versuch, mit einem Chiral Switch therapeutische Vorteile zu erzielen. Ibuprofen wurde zunächst als Racemat auf den Markt gebracht: Die Markteinführung von Dexibuprofen (S-Ibuprofen) erfolgte im Jahr 1994 und wurde mit seiner über 100-fach stärkeren COX-Hemmung begründet. Weitere Gründe waren der schnellere Wirkungseintritt und die geringere interindividuelle Variabilität bei Gabe des reinen S-Enantiomers.1 Der tatsächliche therapeutische Vorteil von Dexibuprofen gegenüber racemischem Ibuprofen gilt allerdings als umstritten. Etwa 60 % des R-Ibuprofens werden nämlich im Körper ohnehin zum S-Enantiomer umgewandelt. Diese Biokonversion ist unidirektional; eine Rückumwandlung von S- zu R-Ibuprofen findet kaum statt, sodass racemisches und S-Ibuprofen als „nahezu bioäquivalent“ betrachtet werden können.10,15,16
Tramadol
Ein Schmerzmittel, das nach wie vor als Racemat eingesetzt wird, ist Tramadol. Der Wirkstoff besitzt zwei chirale Zentren und existiert daher in vier stereoisomeren Formen. Das arzneilich verwendete Tramadol ist ein Racemat aus der (1R,2R)(+)-Form und der (1S,2S)(-)-Form. Beide Enantiomere tragen zur Gesamtwirkung bei. Das (+)-Enantiomer wirkt hauptsächlich als µ-Opioidrezeptor-Agonist und hemmt die Wiederaufnahme von Serotonin, während das (-)-Enantiomer die Wiederaufnahme von Noradrenalin hemmt. Durch die Kombination beider Enantiomere nutzt Tramadol zwei verschiedene Wege der körpereigenen Schmerzhemmung. Die Gesamtwirkung von Tramadol ergibt sich aus diesem Zusammenspiel, was die Verwendung des Racemats rechtfertigt.17
Omeprazol/Esomeprazol
Ein prominenter Chiral Switch findet sich in der Klasse der Protonenpumpenhemmer (PPI). Esomeprazol – das S-Enantiomer von Omeprazol – wurde um die Jahrtausendwende von AstraZeneca kurz vor dem Auslaufen des Patentschutzes von racemischem Omeprazol auf den Markt gebracht.18 Beide Substanzen sind in der Belegzelle äquipotent, sie unterscheiden sich ausschließlich in ihrer Pharmakokinetik. Omeprazol wird fast ausschließlich über CYP2C19 verstoffwechselt, während Esomeprazol sowohl durch CYP2C19 als auch CYP3A4 metabolisiert wird. Dieser duale Metabolisierungsweg führt zu einer höheren Bioverfügbarkeit bzw. zu geringeren interindividuellen Schwankungen bei Esomeprazol, insbesondere bei Menschen mit genetischen Varianten des CYP2C19-Enzyms (z. B. langsame Metabolisierer).19 Bei PPI korreliert die AUC direkt mit der Säurehemmung, dementsprechend schafft es Esomeprazol bei gleicher Dosierung die Säure stärker zu hemmen als Omeprazol.19–21 Klinisch fanden sich in Studien jedoch nur marginale Unterschiede. Bei der Behandlung der gastroösophagealen Refluxkrankheit war Esomeprazol signifikant, aber nur geringfügig überlegen. Bei der Behandlung von H. pylori als Teil einer Tripeltherapie gab es keinen signifikanten Unterschied in der therapeutischen Wirksamkeit.19
Zopiclon/Eszopiclon
Im April 2021 erhielt Eszopiclon, das aktive S-Enantiomer des als Racemat eingesetzten Zopiclons, die EMA-Zulassung zur Behandlung von Schlafstörungen – der bisher jüngste Chiral Switch. Eszopiclon weist eine höhere Bindungsaffinität zum GABAA-Rezeptor auf, ermöglicht eine geringere Dosierung und soll laut Hersteller geringere Hangover-Effekte haben. Die Wirksamkeit von Eszopiclon bei Insomnien konnte in klinischen Studien bestätigt werden22, eine direkte Vergleichsstudie mit dem Racemat fand zwar eine vergleichbare Wirksamkeit, aber keine signifikante Überlegenheit gegenüber dem Racemat, was den therapeutischen Vorteil infrage stellt.23
Wohin geht der Trend?
Die große Zeit der Chiral Switches ist mittlerweile vorbei.2 Aktuell gewinnt eine andere Strategie an Bedeutung: die Kombination des Chiral-Switch-Ansatzes mit „Drug-Repurposing“, also der Nutzung eines bereits zugelassenen Wirkstoffs für neue Indikationen. Dieses Vorgehen ermöglicht die schnellere Entwicklung therapeutisch wertvoller Arzneimittel, da bestehende Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit der ursprünglichen Substanzen genutzt werden können.
Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz dieser Strategie ist Esketamin, das ursprünglich als Bestandteil des Racemats Ketamin eingesetzt wurde. Neben seiner etablierten Anwendung als Anästhetikum konnte das S-Enantiomer kürzlich in einer völlig anderen Indikation überzeugen: Esketamin ist in der EU seit 2019 als Nasenspray zur Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen.
Quellen
- Nguyen LA, et al.: Chiral drugs: an overview. Int J Biomed Sci 2006;2(2):85-100
- Calcaterra A, et al.: The market of chiral drugs: Chiral switches versus de novo enantiomerically pure compounds. J Pharm Biomed Anal 2018;147:323-340
- Hutt AJ. Drug chirality and its pharmacological consequences. Smith and Williams‘ Introduction to the Principles of Drug Design and Action. CRC Press 2019.
- Ariëns EJ: Stereochemistry: a source of problems in medicinal chemistry. Med Res Rev 1986;6(4):451-466.
- Brooks WH, et al.: The significance of chirality in drug design and development. Curr Top Med Chem 2011;11(7):760-770.
Weitere Literatur auf Anfrage