Nach der Definition des Europarates zählt man ab 65 Jahren zur Gruppe der älteren Menschen. Diese Altersgrenze findet sich auch in vielen einschlägigen Fachbüchern. Demgegenüber konnte sich die von der WHO vorgeschlagene Grenze ab 60 Jahren nicht durchsetzen. Generell sind aus medizinisch-pharmazeutischer Sicht auch 65 Jahre nicht wirklich aussagekräftig, da der physiologische Alterungsprozess bereits deutlich früher einsetzt und die Abgrenzung anhand des kalendarischen Lebensalters in erster Linie auf gesellschaftlichen Konventionen beruht.
Heterogenität älterer Menschen
Unberücksichtigt bleiben auch die im bisherigen Leben gesammelten Ressourcen und Beeinträchtigungen, sprich soziale, physiologische und psychologische Aspekte, die einem Individuum zur Verfügung stehen und Chance zur Erholung bzw. Kompensation bieten.
In der Gerontologie wird noch eine weitere Gruppe definiert – die der Hochaltrigen. Diese Gruppe umfasst Menschen ≥ 80 Jahren, die traditionell mit alterstypischen Erkrankungen, Demenz und eingeschränkter Funktionalität kämpfen. Doch auch in diesem Kollektiv nimmt der Anteil selbstständiger und funktionell fitter Menschen stetig zu, sodass letzten Endes nur eine gesonderte Betrachtung jedes/jeder einzelnen Patienten/Patientin die Grundlage für eine differenzielle Pharmakotherapie bilden kann.
Merkmale erhöhter Vulnerabilität
Multimorbidität
Multimorbidität bezeichnet das gleichzeitige Bestehen von drei und mehr chronischen Krankheiten. Es ist ein Charakteristikum vieler älterer Menschen und Zeichen erhöhter Vulnerabilität. Obwohl Multimorbidität ein altersassoziiertes Phänomen darstellt, bildet sie nicht zwingend altersassoziierte Veränderungen und daraus resultierende funktionelle Defizite ab. Ein Beispiel: Ein sechsjähriges Kind mit behandlungsbedürftiger atopischer Dermatitis, Hausstaubmilbenallergie und Asthma bronchiale ist definitionsgemäß ebenso multimorbide wie ein 85-jähriger Pensionist mit koronarer Herzkrankheit, Fettstoffwechselstörung und Diabetes.
Multimorbidität kann jedoch relativ gut eine zu erwartende Polypharmazie vorhersagen. Laut hausärztlicher S3-Leitlinie „Multimedikation“ ist dies bei einer gleichzeitigen und dauerhaften (≥ 90 Tage) Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten der Fall. Arzneimittellisten wie PRISCUS 2.0 und FORTA können helfen, potenziell ungeeignete Medikamente zu erkennen und so deren Gesamtzahl zu reduzieren bzw. durch besser verträgliche zu ersetzen. CAVE: Der Begriff Polypharmazie sagt lediglich etwas über die Anzahl der Arzneistoffe aus, nichts über ihren Nutzen!
Frailty
Frailty bedeutet übersetzt so viel wie Gebrechlichkeit. Es beschreibt ein Syndrom, das durch eine allgemein erhöhte Anfälligkeit älterer Menschen gegenüber exogenen Stressfaktoren gekennzeichnet ist. Frailty korreliert vergleichsweise gut mit Vulnerabilität, da es den Verlust an Muskelmasse (Sarkopenie), einen veränderten Energiestoffwechsel (Malnutrition) und neurologische oder kognitive Defizite erfasst. Mit der FRAIL-Scale ist ein einfacher Fragebogen verfügbar, der es erlaubt, ohne Durchführung klinischer Untersuchungen festzustellen, ob ein/e Patient:in „gebrechlich“ ist oder nicht.
FRAILTY-Scale
- Fatigue (Müdigkeit): Fühlen Sie sich meistens müde
- Resistance (Muskelkraft): Können Sie ein Stockwerk Treppen steigen?
- Ambulation (Gehfähigkeit): Können Sie 100 Meter gehen
- Illness (Krankheiten): Leiden Sie an mehr als fünf Erkrankungen
- Loss of Weight (Gewichtsverlust): Haben Sie in den letzten sechs Monaten ungewollt mehr als 5 kg an Gewicht verloren?
Kein Kriterium erfüllt: Patient:in fit
1–2 Kriterien erfüllt: Prefrailty
> 2 Kriterien erfüllt: Frailty
Aktivitäten des täglichen Lebens
Eine Möglichkeit, die Alltagskompetenz älterer Menschen abzuschätzen, ist der Barthel-Index. Weil er nur bestimmte Punkte abfragt, bedeutet ein guter Score aber nicht zwangsläufig, dass die Patient:innen in der Lage sind, ihr Leben selbstständig zu führen. Für komplexe Tätigkeiten wie Einkaufen, Haushaltsführung, Geldgeschäfte etc. wurde der Barthel-Index deshalb um die IADL-Skala nach Lawton und Brody erweitert (ADL/IADL-Konzept; Aktivitäten des täglichen Lebens/Erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens). Die jeweiligen Scores kann man für das geriatrische Assessment heranziehen.
Messung der Alltagskompetenz Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL)/ Erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) | |
ADL1 | IADL2 |
Essen | Telefonieren |
Baden | Einkaufen |
Körperpflege | Kochen |
An- und Auskleiden | Haushalt |
Stuhlkontrolle | Wäsche |
Urinkontrolle | Verkehrsmittel |
Toilettenbenutzung | Medikamente |
Bett- bzw. Stuhltransfer | Medikamente |
Mobilität | |
Treppensteigen | |
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Pharmakologische Besonderheiten
Abweichungen pharmakokinetischer und -dynamischer Natur sind im Alter unterschiedlich stark ausgeprägt und hängen neben dem Alter auch von Geschlecht, Nieren- und Leberfunktion sowie Komorbiditäten ab. Generell nehmen im Gastrointestinaltrakt die Magenentleerung und intestinale Blutversorgung ab. Orale Darreichungsformen werden infolgedessen langsamer resorbiert, was das Risiko für gastrointestinale Nebenwirkungen erhöht. Gesamtkörperwasser, Plasmaproteine und Muskelmasse sind bei älteren Erwachsenen vermindert, sodass hydrophile Substanzen schneller anfluten. Umgekehrt tendieren lipophile Substanzen aufgrund des gestiegenen Gesamtkörperfettanteils zu akkumulieren. Für die Pharmakotherapie ist darüber hinaus die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) der Nieren und eine sich daraus ergebende Dosisanpassung renal eliminierter Arzneistoffe relevant. Cockcroft und Gault haben eine Formel entwickelt, mit der man die GFR unter Beachtung von Alter, Körpergewicht, Geschlecht und Serumkreatinin berechnen kann. Wenngleich genauere Formeln existieren, so ist die Formel nach Cockcroft und Gault für die Medikamentendosierung ausreichend und angesichts ihrer Simplizität in der Praxis zu bevorzugen.
Pharmakotherapie ausgewählter Indikationen
Hypertonie
Für kaum eine andere Erkrankung ist derart gut belegt, dass eine Therapie auch nachweislich im hohen Alter sinnvoll ist, um damit assoziierte Komplikationen zu verringern. Der Nutzen von Antihypertensiva bei älteren Patient:innen wird durch zahlreiche Studien (Framingham, SYST-EUR, HYVET usw.) untermauert. Angesichts der eingeschränkten Gegenregulation ist speziell in der Einstellphase mit orthostatischen Problemen zu rechnen. Dosistitrationen sollten also vorsichtiger als gewöhnlich erfolgen. Eine eingeschränkte GFR kann nicht nur die Ausscheidung hydrophiler Wirkstoffe verzögern (z. B. Atenolol, Nebivolol), sondern birgt auch die Gefahr einer Hyperkaliämie, speziell wenn gleichzeitig ACE-Hemmer, Sartane, Mineralcorticoidrezeptor-Antagonisten (MRA) oder Diuretika eingenommen werden. Letztere sind in Bezug auf Elektrolytentgleisungen besonders hervorzuheben.
Herzinsuffizienz
Die ESC-Leitlinien zur Diagnose und Therapie der akuten und chronischen Herzinsuffizienz versehen die „Fantastic Four“ (ACE-Hemmer/ARNI, Betablocker, MRA, SGLT-2-Hemmer) mit einer Klasse IA-Empfehlung, um die Mortalitäts- und Hospitalisierungsrate zu reduzieren. Im hohen Alter rückt der Wunsch nach einer verbesserten Lebensqualität oft in den Vordergrund, während der lebensverlängernde Aspekt weniger relevant ist. Für viele Patient:innen ist es wichtiger, frei von Atemnot und Müdigkeit zu sein, als möglichst lange zu leben. Digitalispräparate bessern die genannten Beschwerden, werden gemäß ESC aber nur noch bei herzinsuffizienten Patient:innen mit Vorhofflimmern empfohlen, bei denen die Frequenzkontrolle durch Betablocker allein nicht ausreicht. Der therapeutische Serumspiegel für Digoxin liegt zwischen 0,8–2 ng/ml, für Digitoxin zwischen 10–25 ng/ml. Symptome einer Intoxikation hängen von der Höhe des Blutspiegels ab. Typisch sind gastrointestinale (Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen), zentralnervöse (Kopf-schmerzen, Müdigkeit, Halluzinationen, Benommenheit) und kardiale (Bradykardie, Herzblock) Nebenwirkungen.
Schlafstörungen
Bis zu 60 % aller älteren Menschen klagen über Schlafstörungen. Die Schwierigkeit, ein- oder durchzuschlafen, gehört im höheren Lebensalter demnach zu den häufigsten Beschwerden überhaupt. Dennoch werden Schlafstörungen oft nicht adäquat behandelt. Die unkritische Verordnung benzodiazepinhaltiger Hypnotika zählt sicherlich zu den Kardinalproblemen. In den Medikationscheck sollten auch andere Medikamente (v. a. Antidepressiva, Diuretika, Antiparkinsonika, Betablocker, Corticosteroide) und Genussdrogen (v. a. Kaffee, Schwarztee, Alkohol, Nikotin) miteinfließen, die Schlafstörungen auslösen oder diese aggravieren können. Ist tatsächlich ein Hypnotikum nötig, ist es bei akuter Insomnie für maximal 2–4 Wochen indiziert.
Quellen
- Burkhardt H, et al.: Pharmacotherapy of elderly patients. Internist (Berl) 2007; 48(11):1220,1222-4, 1226-31
- DEGAM. S3-Leitlinie Multimedikation (2021). AWMF-Registernummer: 053–043
- Lee JK, et al.: Optimizing pharmacotherapy in elderly patients: the role of pharmacists. Integr Pharm Res Pract 2015; 4: 101-11
- Liu E, et al.: Heart failure in older adults: medical management and advanced therapies. Geriatrics (Basel) 2022; 7(2): 36
- McDonagh TA, et al.: 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure. Eur Heart J 2021; 42(36): 3599-3726
Weitere Literatur auf Anfrage